Deutschland nach der Wahl

Neu sortiert

Die Volksparteien erodieren, die Zahl politischer Wettbewerber wächst, Grüne und FDP gewinnen an Selbstvertrauen. Der Ausgang der Wahl veränderte die deutsche Politik auf lange Sicht.

TEXT: UWE JUN
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA

4 Menschen plakatieren einen Cubixwürfel mit den Farben der großen Parteien.
4 Menschen plakatieren einen Cubixwürfel mit den Farben der großen Parteien.

Deutschland nach der Wahl

Neu sortiert

Die Volksparteien erodieren, die Zahl politischer Wettbewerber wächst, Grüne und FDP gewinnen an Selbstvertrauen. Der Ausgang der Wahl verändert die deutsche Politik auf lange Sicht.

TEXT: UWE JUN

Die Wahlentscheidung des Einzelnen fällt kurzfristiger aus und ist schwerer kalkulierbar.

Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 bestätigen eine Reihe von grundlegenden Trends in der Entwicklung des deutschen Parteiensystems. Wesentlich ist zunächst die fortgesetzte Erosion der Volksparteien. Dabei hatte dieser Parteientypus das Parteiensystem über Jahrzehnte geprägt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gewannen nun CDU/ CSU und SPD weniger als 50 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen. Die relative Überalterung ihrer Wählerschaft lässt erwarten, dass sich diese Talfahrt in künftigen Wahlen fortsetzt. Ein Grund für den Rückgang der gesellschaftlichen Verankerung von CDU/CSU und SPD liegt im gesellschaftlichen Wandel. Die traditionellen Milieus der gewerkschaftsgebundenen Arbeitnehmerschaft wie auch der Kirchgänger zerbröseln. Gleichzeitig laufen Prozesse der Individualisierung und Singularisierung, die Parteien, die auf Integration und Repräsentation vieler gesellschaftlicher Gruppen setzen, weniger attraktiv machen. Dabei sind solche Integrationsparteien, die unterschiedlichste Gruppen umspannen, zur Kompromissfindung im pluralistischen Wettbewerb wichtig. Sie haben in der Vergangenheit das Regieren erleichtert. Hinzu kommen eigene Versäumnisse der Parteien. Aus Sicht vieler Wählerinnen und Wähler sind sie auf zentrale Themen wie Klimawandel, Digitalisierung und Migration nicht hinreichend eingegangen. In der Gesellschaft virulente Konflikte fanden somit in den Volksparteien nicht genug politischen Widerhall. Union und SPD erscheinen gerade jüngeren Wählerinnen und Wählern als Organisationen einer älteren Gesellschaft, die Antworten auf Fragen der Zukunft partiell vermissen lassen.

Polarisierung nimmt ab

Die Erosion der Volksparteien begünstigt die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems. Nicht nur werden die einstigen Großparteien immer kleiner, sondern auch die Anzahl der Wettbewerber erhöht sich. In den zurückliegenden Jahrzehnten sind immer mehr relevante Parteien in den Wettbewerb eingetreten: die Grünen in den Achtziger-, die heutige Linke in den Neunzigerjahren, und zuletzt die AfD. Gleichzeitig haben sich die Unterschiede in den ideologisch-programmatischen Vorstellungen vergrößert.

In der Bundestagswahl haben jetzt allerdings sowohl die AfD als auch die Linke zum Teil deutliche Verluste erlitten, die Polarisierung erscheint somit leicht abgebremst. Immerhin konnten FDP und Grüne Zuwächse verbuchen – zwei Parteien, die entweder im sozio-ökonomischen oder im sozio-kulturellen Spektrum am eindeutigsten Position beziehen: Die FDP zugunsten von marktwirtschaftlichen Inhalten, die Grünen zugunsten von Werten wie Selbstentfaltung, Toleranz und Emanzipation. Für die Bildung einer Regierungskoalition entweder zwischen SPD, FDP und Grünen (Ampel) oder zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen (Jamaika) sind die sozio-kulturellen Differenzen schwächer ausgeprägt als die sozio-ökonomischen, die sich nur mit erheblichem Kompromisswillen überbrücken lassen. CDU/CSU und FDP hegen andere Vorstellungen zur Erneuerung des Industriestandorts angesichts des Klimawandels als Grüne und SPD, ebenso wie zu Sozialstaat sowie zu finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen.

Dass FDP und Grüne unmittelbar nach dem Wahlabend Vorsondierungen vorgenommen haben, zeigt eine Machtverschiebung im deutschen Parteiensystem. Die einstmals kleineren Parteien haben an Selbstbewusstsein gewonnen, SPD und Union demgegenüber an Einflussmöglichkeiten verloren. Eine Drei-Parteien-Koalition scheint angesichts der schon in den Bundesländern zu erkennenden größer werdenden Vielfalt von Koalitionsmöglichkeiten wahrscheinlicher.

Dass sich der Parteienwettbewerb intensiviert hat, lässt auch schon die schiere Zahl der Parteien erkennen, die zu dieser Bundestagswahl angetreten waren: Es nahmen 47 teil und damit so viele Parteien wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Neben den schon bisher im Bundestag vertretenen Parteien erreichten oder übertrafen immerhin fünf weitere die für die Teilnahme an der staatlichen Parteienfinanzierung wichtige 0,5-Prozent-Hürde (Freie Wähler, Die Partei, Tierschutzpartei, die Basis und Team Todenhöfer).

Einigkeit wird belohnt

Als weiterer zentraler Faktor des Parteienwettbewerbs ist die zunehmende Volatilität zu nennen. Die Menschen identifizieren sich weniger mit einer Partei und fühlen sich ihr weniger dauerhaft verpflichtet; die Zahl der ungebundenen Wechselwählerinnen und -wählern nimmt zu. Die Wahlentscheidung fällt kurzfristiger aus und ist damit schwerer kalkulierbar geworden. Der Ausgang von Wahlen ist stärker von aktuellen Stimmungslagen und Themen sowie von situativen personellen Konstellationen abhängig geworden. Gerade Letzteres hat die Wahl zu Ungunsten der Unionsparteien und zugunsten der Sozialdemokratie entschieden.

Die geringe Wählerwirksamkeit des Kanzlerkandidaten von CDU/CSU Armin Laschet wirkte sich entscheidend nachteilig für die Union aus. Diese Schwäche muss neben den offen sichtbaren parteiinternen Unstimmigkeiten und einem Vertrauensverlust gegenüber ihrer Regierungsarbeit als zentraler Grund für das schlechteste Ergebnis der Unionsparteien in der Geschichte der Bundesrepublik gelten.

Umgekehrt profitierte die SPD von der im Vergleich mit den unmittelbaren Wettbewerbern deutlich größeren Popularität ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, den seine Partei zudem durch eine gut ausgeführte Kampagne ansprechend in Szene zu setzen verstand. Vorteilhaft für die SPD wirkte sich auch aus, dass sie im Wahlkampf als recht geschlossene Partei erschien. Die Wählerschaft belohnt sehr häufig jene Parteien, die sich als geeinigte Gruppe präsentieren, und bestraft diejenigen, die durch Kontroversen auffallen. Aus diesem Grund gewannen neben der SPD auch die Grünen und die FDP hinzu, während CDU/CSU, AfD und Linke Stimmeneinbußen hinnehmen mussten.

Uwe Jun ist Professor für Politikwissenschaft (Politisches System der Bundesrepublik Deutschland) an der Universität Trier. Er ist zudem Sprecher des Arbeitskreises Parteienforschung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.

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