IM KONTEXT
Klaus von Dohnanyi, ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Bürgermeister Hamburgs, kritisiert die Ostpolitik des Westens scharf. Sein Verständnis gilt Russland. Das Recht auf Selbstbestimmung der Länder Mittel- und Osteuropas berücksichtigt er zu wenig.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
IM KONTEXT
Klaus von Dohnanyi, ehemaliger Bundeswirtschaftsminister und Bürgermeister Hamburgs, kritisiert die Ostpolitik des Westens scharf. Sein Verständnis gilt Russland. Das Recht auf Selbstbestimmung der Länder Mittel- und Osteuropas berücksichtigt er zu wenig.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
Kaum erschienen, wurde das Buch breit besprochen und landete auf der Bestsellerliste des SPIEGEL. Nach der ersten Auflage vom November 2021 liegt es jetzt bereits in der vierten Auflage vor. Die Streitschrift ist flott geschrieben und liest sich fast wie ein Gespräch mit dem Verfasser, einem Kenner der Außenpolitik seit den frühen Siebzigerjahren. Kern des Buches ist eine harte Kritik an der Ostpolitik des Westens. Sie richtet sich vor allem an die NATO-Osterweiterung, erstens, soweit sich diese tatsächlich in den vergangenen drei Jahrzehnten vollzog, durch den Beitritt der postsozialistischen Länder Mitteleuropas und des Baltikums; und zweitens, soweit sie ausdrücklich nicht ausgeschlossen wurde, wie gegenüber der Ukraine.
Dohnanyi sieht in beidem schwere politische Fehler, weil nationale Sicherheitsinteressen Russlands nicht berücksichtigt worden seien. Das Ergebnis: eine traumatisierte Russische Föderation, die mit der Eroberung der Krim 2014 reagierte, 2021 massiv Truppen zusammenzog und im Februar 2022 die Ukraine überfiel. Aus Dohnanyis Sicht war das eine Katastrophe mit Ansage, begünstigt durch das Versagen eines Westens, der das Bedürfnis Russlands in den Wind schlug, keine Truppen vor der eigenen Haustür zu haben, ähnlich wie ja auch die Vereinigten Staaten 1962 auf die sowjetische Präsenz auf Kuba allergisch und scharf reagierten. Diese Kernbotschaft Dohnanyis ist in sich logisch, denn Russlands Weg des aggressiven Revanchismus entwickelte sich zu Putins Zeiten Schritt für Schritt als Reaktion auf den zweistufigen NATO-Beitritt 1999 und 2004 von insgesamt zehn der mittel- und osteuropäischen Nationen sowie dem nicht eindeutig negativen Signal 2008 an die Ukraine.
Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die hier in Europa die Richtung vorgeben.
KLAUS VON DOHNANYI
Die zentrale Frage ist allerdings eine andere, kontrafaktische: Was wäre geschehen, wenn es diese Beitritte nicht gegeben hätte? In Polen, Tschechien und Ungarn jedenfalls waren die Erinnerungen an die so-wjetischen politischen und militärischen Eingriffe 1981, 1968 und 1956 noch frisch. Das gilt ebenso für die baltischen Länder, wo die Unterdrückung der nationalen Freiheit in der Sowjetunion unvergessen ist – abgesehen von den noch viel weiter zurückreichenden Erfahrungen mit dem russischen Imperialismus. Dies alles musste der Westen ernst nehmen. Und das Ausmaß der erzielten Stabilität in diesen Ländern, politisch und wirtschaftlich, spricht dafür, dass es richtig war.
Hier liegt die große Schwäche von Dohnanyis Argumentation. In ihr kommen die Interessen der postsozialistischen Nachbarn Russlands einfach nicht vor. Er legt die Welt der Einflusszonen der Großmächte normativ zugrunde, so als säßen wir heute noch am Tisch der Konferenz von Jalta 1945, als hätte es die Schlussakte von 1975 mit der Verankerung der nationalen Selbstbestimmung in Europa nicht gegeben. In dieser Welt fällt auch die Ukraine selbstverständlich in eine russische Einflusszone, ob sie dies politisch will oder nicht. Das ist eine inakzeptable Vorstellung staatlicher Souveränität.
Klaus von Dohnanyi, „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“, Siedler Verlag 2021, 240 Seiten, 22 Euro
Klaus von Dohnanyi, „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche“, Siedler Verlag 2021, 240 Seiten, 22 Euro
Vor 230 Jahren erschien eine unerhörte Schrift: Mary Wollstonecrafts „A Vindication of the Rights of Woman“. Es war ein Plädoyer für Freiheit, Bildung und Emanzipation. Eine wichtige Lektüre bis heute.
Dieser Tage sind wir dankbar für jede positive Nachricht. Und eine solche kam am 14. März vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. An diesem Tag billigten die höchsten deutschen Richter das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der Europäischen Union, genannt CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement).
Plötzlich besinnt sich der Westen auf Schiller: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Auf dem Spiel steht nicht allein die Ukraine, sondern Europas 77 Jahre alte Friedensordnung, die längste aller Zeiten.