SOLIDE FINANZEN
In Deutschland überspringt das Steueraufkommen im kommenden Jahr die Latte von einer Billion Euro. Und es reicht immer noch nicht. Oder doch?
Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco
SOLIDE FINANZEN
In Deutschland überspringt das Steueraufkommen im kommenden Jahr die Latte von einer Billion Euro. Und es reicht immer noch nicht. Oder doch?
Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco
Es ist abenteuerlich. Seit den Neunzigerjahren sind die Steuereinnahmen des deutschen Staates dramatisch gewachsen. 1990 lagen sie noch jährlich unter 300 und zu Beginn der Weltfinanzkrise 2008 bei etwa 500 Milliarden Euro. Im kommenden Jahr werden sie wohl die magische Grenze von einer Billion überspringen, also 1000 (!) Milliarden Euro. Das ist innerhalb einer Generation eine gewaltige Steigerung, die weit stärker ausgefallen ist, als Preisinflation und reales Wachstum der Wertschöpfung erklären können. Und trotzdem: Das Geld reicht hinten und vorne nicht. So ist jedenfalls der Tenor, der landauf, landab von den politischen Repräsentanten zu vernehmen ist – sei es aus dem Bund, den Ländern oder den Kommunen. Am lautesten schreien derzeit die Fachministerinnen und -minister im Bundeskabinett, obwohl allein dem Bund für 2024 etwa 424 Milliarden Euro zur Finanzierung seiner Aufgaben zur Verfügung stehen. Bundesfinanzminister Christian Lindner mahnt seine Kolleginnen und Kollegen zur Haushaltsdisziplin und er wird sich zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz wohl auch durchsetzen müssen. Nach dem Ende der Corona- und dem Abklingen der Energiekrise können sie nämlich keine neuerliche „Notlage“ überzeugend begründen, um die Schuldenbremse zu umgehen. Denn Tatsache ist: Es geht inzwischen um eine neue „Normallage“ und eben nicht um eine Notlage der Nation.
Der liberale Bundesfinanzminister hat dies mehrfach treffend beschrieben. „Wir haben ein massives Ausgabenproblem“, so formulierte es Christian Lindner schon im März 2023 im „Bericht aus Berlin“ der ARD; und er fügte am gleichen Tag in der „Welt am Sonntag“ hinzu: „Nach Jahren der Notlagenkredite, der Rücklagen und des Nullzinses ist die wirkliche Finanzlage sichtbar. Wir haben starke Einnahmen, aber die Ausgaben steigen viel zu schnell. Dieser Staat hat ein Kostenproblem“, so Lindner. Es sei „unsere moralische Pflicht gegenüber den Jüngeren, die Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen“.
Es bleibt kein Weg außer Sparen
Richtig. Aber wie? Steuererhöhungen und das Aufgeben der Schuldenbremse scheiden auf Dauer aus und zwar nicht nur, weil es dafür derzeit keine politischen Mehrheiten gibt. Volkswirtschaftlich würden sie nämlich langfristig das Problem nicht lösen, sondern verschärfen. Eine Steuererhöhung wäre höchst unklug, träfe sie doch ein Hochsteuerland, das die Kraft der Eigenfinanzierung des gewerblichen Mittelstands schon heute stark belastet. Die Folge wäre eine Verschlechterung der Standortbedingungen im internationalen Wettbewerb. Ein alternativer Verzicht auf die Schuldenbremse würde ein verheerendes Signal an die Kapitalmärkte senden, das die Bonität der Nation untergraben könnte. Die Folge: höhere Zinsen für den Schuldner Deutschland, dessen Zinslast schon jetzt drastisch gestiegen ist (zuletzt auf 40 Milliarden Euro). Und vielleicht noch dramatischer wäre die Erosion der Stabilität des Euro, denn die hängt maßgeblich ab vom Vertrauen der Finanzmärkte in die dauerhafte Solidität der Finanzpolitik im größten Land der Eurozone und der Europäischen Union.
Kurzum: Es bleibt kein Weg außer Sparen. Dies allerdings nicht auf Kosten der Investitionen, denn diese sind von überragender Bedeutung für das Wirtschaftswachstum, zumal die deutsche Wirtschaft sich derzeit am Rande einer Rezession bewegt. Noch beunruhigender sind dabei die Perspektiven auf lange Sicht: Die Nation altert, und zwar in jeder Hinsicht. Im internationalen Vergleich sind die demografischen Trends noch deutlich schlechter als bei den europäischen Nachbarn sowie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Und das Alter des privaten und öffentlichen Kapitalstocks ist ebenfalls höher als in jenen Nationen, die als wichtigste Konkurrenten im globalen Standortwettbewerb auftreten.
Die nötige Ausgabenbremse muss also auf der Seite des Konsums ansetzen. Tatsächlich sind die öffentlichen Haushalte immer mehr zu einer gewaltigen Zuschuss- und Subventionswirtschaft degeneriert. Dies liegt im Wesentlichen an zwei politischen Gründen: verschleppten Reformen und überregulierten Projekten. Für beides bietet der Bundeshaushalt breites Anschauungsmaterial.
Der Versuch der ökologischen Fein- und Kleinsteuerung liefert eine Rezeptur für die Belastung der öffentlichen Haushalte.
Zwei Illustrationen mögen genügen, aus der Sozialpolitik und der Klimapolitik. Über 100 Milliarden Euro, also fast ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts, werden derzeit zur Unterstützung der verschiedenen Rentenkassen veranschlagt. Dies ist ein Betrag, der über Jahrzehnte stetig zu seiner heutigen Größenordnung wuchs, und zwar in vorhersehbarem Tempo, weil er letztlich nichts anderes darstellt als das Ausmaß der Unterfinanzierung der Sozialversicherung, die sich aus der langsamen, aber unaufhaltsamen Alterung der Gesellschaft ergibt. Der Bedarf an strukturellen Reformen der Rentenfinanzierung – von längeren und flexi-bleren Lebensarbeitszeiten und höheren Beiträgen bis zu kapitalgedeckter Ergänzungsfinanzierung – ist bisher nur in kleinen Schritten befriedigt worden. Und diese reichen bei Weitem nicht aus, um das Anwachsen der Zuschuss-Lawine in den Griff zu bekommen. Es wird höchste Zeit, dass diesem Thema absolute Priorität eingeräumt wird. Bei der Dimension der Haushaltsbelastung ist offensichtlich, wie groß auch das Einsparpotenzial wäre, wenn entschlossen gehandelt würde. Umgekehrt ist klar, dass das Ausmaß der staatlichen Überforderung noch dramatisch zunehmen wird, wenn eben nicht rechtzeitig gehandelt wird, denn der schrittweise Wechsel der riesigen Generation der Babyboomer in den Ruhestand hat gerade erst begonnen.
Zwei Illustrationen mögen genügen, aus der Sozialpolitik und der Klimapolitik. Über 100 Milliarden Euro, also fast ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts, werden derzeit zur Unterstützung der verschiedenen Rentenkassen veranschlagt. Dies ist ein Betrag, der über Jahrzehnte stetig zu seiner heutigen Größenordnung wuchs, und zwar in vorhersehbarem Tempo, weil er letztlich nichts anderes darstellt als das Ausmaß der Unterfinanzierung der Sozialversicherung, die sich aus der langsamen, aber unaufhaltsamen Alterung der Gesellschaft ergibt. Der Bedarf an strukturellen Reformen der Rentenfinanzierung – von längeren und flexi-bleren Lebensarbeitszeiten und höheren Beiträgen bis zu kapitalgedeckter Ergänzungsfinanzierung – ist bisher nur in kleinen Schritten befriedigt worden. Und diese reichen bei Weitem nicht aus, um das Anwachsen der Zuschuss-Lawine in den Griff zu bekommen. Es wird höchste Zeit, dass diesem Thema absolute Priorität eingeräumt wird. Bei der Dimension der Haushaltsbelastung ist offensichtlich, wie groß auch das Einsparpotenzial wäre, wenn entschlossen gehandelt würde. Umgekehrt ist klar, dass das Ausmaß der staatlichen Überforderung noch dramatisch zunehmen wird, wenn eben nicht rechtzeitig gehandelt wird, denn der schrittweise Wechsel der riesigen Generation der Babyboomer in den Ruhestand hat gerade erst begonnen.
Einfach definierte Kernziele
Im Bereich der Klimapolitik ist die Lage anders, aber nicht weniger problematisch. Hier geht es um einen zu weit getriebenen Aktionismus – mit staatlicher Finanzierung von Subventionen, Steuervergünstigungen und Zuschüssen für die verschiedensten Maßnahmen und Zwecke. Dabei ist das ökologische Kernziel unserer Gesellschaft heutzutage eigentlich relativ einfach und klar definiert. Es geht in erster Linie um die Verminderung von klimaschädlichen Emissionen der bekannten Treibhausgase, allen voran Kohlendioxid. Auch das zentrale Instrument, dieses Ziel einigermaßen haushaltsneutral zu erreichen, liegt seit Langem auf dem Tisch: ein umfassender Handel mit mengenmäßig beschränkten Emissionszertifikaten („cap-and-trade“), der für alle Sektoren der Volkswirtschaft verpflichtend ist, von der Energie- über die Landwirtschaft bis zu Verkehr und Wärmeproduktion. Zwar mag eine derartige Transformation soziale Maßnahmen zur Abfederung von Härten nach sich ziehen, die dann auch die öffentlichen Haushalte belasten. Aber diese würden unvergleichlich weniger zu Buche schlagen als die Fülle von differenzierten Subventionen, Steuervergünstigungen und Zuschüssen, die heute bei der Implementierung spezifischer Technologien anfallen (wie etwa der Wärmepumpen im Heizbereich). Tatsächlich liefert der derzeitige Versuch der ökologischen Fein- und Kleinsteuerung geradezu eine Rezeptur für die öffentliche Haushaltsbelastung (abgesehen davon, dass er Prinzipien der Technologieneutralität grob missachtet). Wer gezielt Anreize setzt, ist eben auch im Auge der Öffentlichkeit für deren Finanzierung verantwortlich – und wird sie nicht mehr los. Dass dabei auch noch kostspielige Mitnahmeeffekte entstehen, liegt auf der Hand.
Fazit: Der Staat muss endlich die Weichen so stellen, dass er eine Chance hat, sich aus dem Zustand der Überforderung zu befreien. Dazu braucht er strukturelle Reformen in Richtung der langfristigen finanziellen Stabilität. Dies gilt für das Renten- und Sozialsystem genauso wie für die klimapolitische Transformation. Dazu braucht er natürlich auch den nötigen politischen Mut. Der beginnt mit der Wahrung der Schuldenbremse ohne Steuererhöhungen. Aber er endet nicht dort. Er setzt sich fort in der Durchsetzung eines langfristigen Konzepts einer umfassenden Nachhaltigkeit, die nicht nur ökologische und soziale, sondern auch – und mit gleicher politischer Entschlossenheit – finanzielle Belange in den Blick nimmt. Zum Nutzen künftiger Generationen. Das ist eine große Aufgabe!
Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor (emer.) für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt.
Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor (emer.) für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt.
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