Texte zum Liberalismus #2

Ausbruch aus der gedanklichen Enge

Im liberalen Verständnis einer freien Gesellschaft steht der Wille zur Offenheit im Vordergrund – technologisch, existenziell, wirtschaftlich, wissenschaftlich und perspektivisch. Es geht heute nicht darum, die beste Lösung für genau definierte Probleme zu finden – sondern darum, zuerst Fragen zu stellen, die uns aus der Enge führen.

Text: Wolfram Eilenberger


Texte zum Liberalismus #2

Falsche Vulgarisierung liberaler Freiheit

Im liberalen Verständnis einer freien Gesellschaft steht der Wille zur Offenheit im Vordergrund – technologisch, existenziell, wirtschaftlich, wissenschaftlich und perspektivisch. Es geht heute nicht darum, die beste Lösung für genau definierte Probleme zu finden – sondern darum, zuerst Fragen zu stellen, die uns aus der Enge führen.

Text: Wolfram Eilenberger


Manchmal geht es selbst bei Koalitionsstreitigkeiten um mehr als bloße Worte. Wie etwa bei den jüngsten Auseinandersetzungen um den Begriff der „Technologieoffenheit“. Gleich mehrfach stellten sie den Fortbestand des aktuellen Regierungsbündnisses auf die Probe. Und das aus gutem Grund. Schließlich verdichten sich in diesem Begriff nicht nur praktische, sondern auch theoretische Fragen von höchster Zukunftsrelevanz. Der Begriff der „Offenheit“ mag für das Selbstverständnis liberaler Gesellschaften grundlegender sein als selbst die „Freiheit“. Das deutet bereits der Titel des philosophischen Grundlagenwerks an, das den politischen Eliten des Westens als maßgebliche Rechtfertigungsquelle ihrer Nachkriegshaltung diente. Die Rede ist von Karl Poppers Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, das der Wiener Wissenschaftsphilosoph zu Beginn der 1940er-Jahre im neuseeländischen Exil verfasst hatte. 

Die Offenheit, die es nach Poppers antitotalitärem Plädoyer unbedingt zu wahren und zu verteidigen galt, war dabei eine spezifische Form von Ergebnis- und Erkenntnisoffenheit, wie er sie vor allem im naturwissenschaftlichen Forschen verkörpert sah. So wenig, wie es etwa für einen Physiker fachlich unumstößliche Gewissheiten und absolute Zukunftsanmaßung auf Basis bislang freigelegter Gesetzmäßigkeiten gebe, dürften diese auch und gerade in den Sozialwissenschaften sowie der konkreten politischen Praxis nicht angenommen werden. Die für offene Gesellschaften leitende Form des Problemlösens habe sich vielmehr an der Dynamik von forscher Hypothese, möglicher empirischer Widerlegung sowie erneuter, verbesserter Hypothesenbildung zu orientieren. Im Gegensatz zu den wirklichkeitsverleugnenden Verengungen von Stalinismus und Hitlerismus bilde genau dieses Sich-Einlassen auf das radikal ergebnisoffene Spiel von „Vermutung und Widerlegung“ das Zentrum einer freien Gesellschaft und präge deren Wissenschaft, Wirtschaft, Technologie wie auch die Politik in ähnlicher, letztlich überlegener Weise. 

Selbstverschluss der Gesellschaft

Es bleibt nicht ohne Reiz – und Schwierigkeiten –, Poppers damalige Impulse auf aktuell drohende Engen anzuwenden. Vor allem auf solche, die mit dem menschengemachten Klimawandel verbunden sind. Schließlich hat sich mit bestens belegten Klimamodellen eine Konstellation ergeben, die Popper so nicht voraussah oder voraussehen konnte. Sie besteht kurz gesagt darin, dass ein nachhaltiger Selbstverschluss offener Gesellschaften sich derzeit nicht etwa in Abwehr, sondern auf Basis rein naturwissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse zu vollziehen droht. Es sind sogenannte harte naturwissenschaftliche Fakten, gepaart mit den durch Modelle gestützten Prognosen, die eine immer größere Zahl progressiver Stimmen ganz offen fordern lassen, zentrale Eigenheiten unserer Gesellschaften selbstbestimmt aufzuheben.

So beispielsweise die Ökonomin Ulrike Herrmann mit ihrem beachtlichen Bestseller „Das Ende des Kapitalismus“, in welchem sie die Demokratien des Westens ultimativ auffordert, sich in einen Zustand der staatlich gelenkten Kriegswirtschaft zu begeben, wie ihn etwa Winston Churchill ab Beginn der 1940er-Jahre vollzog. Der unbedingt zu bekämpfende Klimawandel nimmt in Herrmanns Analogie für uns Heutige genau die Stelle ein, die Hitlerdeutschland damals für die Briten, ja die gesamte freie Welt einnahm: nämlich die einer ultimativen Überlebensbedrohung. 

100 Jahre Kriegszustand?

Welche anderen Aufhebungen von Grundrechten mit der Verkündung eines Kriegs- oder Ausnahmezustandes notwendig einhergehen, verschweigt Herrmann dabei ebenso vornehm wie die Tatsache, dass ein so verstandener Klimakriegszustand nach bester wissenschaftlicher Lageeinschätzung anstatt weniger Monate oder Jahre wohl mindestens die kommenden 100 Jahre anzudauern hätte. Wie auch immer man sich eine moderne Gesellschaft im hundertjährigen Kriegszustand vorstellen mag, sie wird keine offene im gängigen Verständnis mehr sein können. Weder existenziell noch wirtschaftlich, weder kulturell noch technologisch – ja nicht einmal mehr wissenschaftlich. Das ist bei klarer Sicht der Entwicklungsgang, der den offenen Gesellschaften Poppers im Namen der Wissenschaft und des nackten Überlebens derzeit droht.

Woraus sich aus liberaler Sicht verschiedene Schlüsse ziehen ließen: Erstens und durchaus nicht nur als rhetorischer Oberflächeneffekt wäre man angehalten, in der politischen Kommunikation von „Freiheit“ auf „Offenheit“ umzustellen, also den Willen zur Offenheit in all seinen denkbaren Formen (technologisch, existenziell, wirtschaftlich, wissenschaftlich, perspektivisch auch in Fragen staatlicher Grenzregime) als eigentliches Signum eines liberalen Weltverständnisses in den Vordergrund zu stellen. Die Freiheit ist ein Kind der Offenheit – nicht umgekehrt.

Die Freiheit ist ein Kind der Offenheit – nicht umgekehrt.

Zweitens sollte man sich bewusst werden, dass die Offenheit, auf der eine wahrhaft liberale Gesellschaft gründet, nicht vorrangig wissenschaftsförmig ist und also nicht im Sinne einer Popper’schen „Logik der Forschung“ bestimmt werden kann. Nicht nur sind die Unterschiede zwischen einer wissenschaftlichen Etablierung handlungsleitender Fakten und der politischen Legitimierung handlungsleitender Maßnahmen und Normen dafür zu eklatant.

Eine Verengung des liberalen Selbstverständnisses im Sinne der Wissenschaftsoffenheit führt auch dazu, die entscheidenden Lösungskompetenzen für die Krisen der Zukunft auf Bereiche der Technologie und Naturwissenschaft zu verengen. 

Als ob es wirklich objektive Fakten wären, die uns als Menschen antreiben und frei werden lassen – und nicht ganz individuelle Zweifel. Als ob unser zukünftiges Heil vor allem von technischen Innovationen abhinge – und nicht von alltäglichen Wandlungen. Als ob es bei tiefen zivilisatorischen Krisen allein darum ginge, die beste Lösung für ein bereits genau verstandenes Problem zu finden – und nicht erst einmal die Frage, die uns aus der Enge zurück ins Offene führt.

Die Frage nach einer tragfähigen Zukunft des Liberalismus – in Theorie wie Praxis – ist derzeit so eine radikale offene Frage. Wir sollten nicht so tun, als ließe sie sich mit bereits vorhandenen Modellen abdichten.

Zweitens sollte man sich bewusst werden, dass die Offenheit, auf der eine wahrhaft liberale Gesellschaft gründet, nicht vorrangig wissenschaftsförmig ist und also nicht im Sinne einer Popper’schen „Logik der Forschung“ bestimmt werden kann. Nicht nur sind die Unterschiede zwischen einer wissenschaftlichen Etablierung handlungsleitender Fakten und der politischen Legitimierung handlungsleitender Maßnahmen und Normen dafür zu eklatant.

Eine Verengung des liberalen Selbstverständnisses im Sinne der Wissenschaftsoffenheit führt auch dazu, die entscheidenden Lösungskompetenzen für die Krisen der Zukunft auf Bereiche der Technologie und Naturwissenschaft zu verengen. 

Als ob es wirklich objektive Fakten wären, die uns als Menschen antreiben und frei werden lassen – und nicht ganz individuelle Zweifel. Als ob unser zukünftiges Heil vor allem von technischen Innovationen abhinge – und nicht von alltäglichen Wandlungen. Als ob es bei tiefen zivilisatorischen Krisen allein darum ginge, die beste Lösung für ein bereits genau verstandenes Problem zu finden – und nicht erst einmal die Frage, die uns aus der Enge zurück ins Offene führt.

Die Frage nach einer tragfähigen Zukunft des Liberalismus – in Theorie wie Praxis – ist derzeit so eine radikale offene Frage. Wir sollten nicht so tun, als ließe sie sich mit bereits vorhandenen Modellen abdichten.

Wolfram Eilenberger ist mehrfach preisgekrönter Schriftsteller und Philosoph. In seinen Büchern verknüpft er Biografien, Epochenbilder und die Vermittlung von Philosophie zum Genre des „polyphonen Sachbuchs“.

Wolfram Eilenberger ist mehrfach preisgekrönter Schriftsteller und Philosoph. In seinen Büchern verknüpft er Biografien, Epochenbilder und die Vermittlung von Philosophie zum Genre des „polyphonen Sachbuchs“.

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