Fachkräftemangel

Fachkräfte
im Stand-by

Überforderung, mangelndes Selbstwertgefühl oder überhöhtes Selbstbewusstsein:
Noch immer gibt es in Deutschland zu viele junge Erwachsene ohne Ausbildung. Angesichts des Mangels an Fachkräften ist das ein Unding. Hamburg zeigt, wie es gelingt, junge Menschen erfolgreich in einen Beruf zu bringen.

Text: Ella Posthus

Fachkräftemangel

Fachkräfte
im Stand-by

Überforderung, mangelndes Selbstwertgefühl oder überhöhtes Selbstbewusstsein:
Noch immer gibt es in Deutschland zu viele junge Erwachsene ohne Ausbildung. Angesichts des Mangels an Fachkräften ist das ein Unding. Hamburg zeigt, wie es gelingt, junge Menschen erfolgreich in einen Beruf zu bringen.

Text: Ella Posthus


Es ist ein eiskalter Vormittag in Berlin, trotzdem trudeln in der Seniorenresidenz Nova Vita in Berlin nacheinander ein paar Menschen ein, drei sind noch sehr jung, zwei etwas älter. Sie warten erst einmal im Foyer, vor dem künstlichen Kaminfeuer. Hin und wieder laufen rüstige Rentnerinnen mit Rollatoren an ihnen vorbei. Nach ein paar Minuten geht es los: Die Personalchefin bittet in einen anderen Raum. Die jungen Besucher sollen über den Pflegeberuf informiert werden, die Berliner Jugendberufsagentur hat den Termin organisiert. Im besten Fall finden alle fünf hier oder woanders einen Ausbildungsplatz und schließen die Ausbildung ab. Im schlechtesten Fall gesellen sich die jungen Leute zu einem stetig wachsenden Heer – den Ungelernten.

Es war ein wenig beachteter Rekord, den der Berufsbildungsbericht 2023 verkündete: Satte 17,8 Prozent der 20- bis 34-jährigen Erwachsenen in Deutschland, in absoluten Zahlen 2,64 Millionen, sind Ungelernte. Dazu werden alle gezählt, die keinen Abschluss haben oder nur angelernt sind. Wer noch in Ausbildung ist, zählt nicht dazu. Ein „dramatischer Anstieg“, wie es in dem Bericht heißt.

Vorzeitiges Ende der Lehre

Aber wer verbirgt sich genau hinter den Zahlen? Die reine Statistik zeigt, dass die Gruppe alles andere als homogen ist: Darunter sind viele junge Menschen mit eigener Mi­grationserfahrung, aber auch Migrantinnen und Migranten der zweiten, dritten Generation. Junge Eltern unter 24. Es sind mehr Männer als Frauen. Viele haben keinen Schulabschluss. Manche haben vermutlich mal eine Ausbildung angefangen, sie aber dann abgebrochen, ohne sich eine neue Stelle zu suchen – fast jeder dritte Ausbildungsvertrag wird aufgelöst, ebenfalls ein Rekord. Und niemand weiß, wo diese Menschen eigentlich sind. Längst gibt es einen Begriff für sie: NEETs, „not in employment, education or training“.

Selbst das renommierte Marktforschungsinstitut Rheingold, das 2023 im Auftrag der Initiative „Joblinge“ eine Studie durchführte, hatte Probleme, Gesprächspartner aus dieser Gruppe zu finden. Dann sprachen 26 junge Erwachsene doch mit ihnen. Ergebnis: Viele arbeiten durchaus, in Mini- und Nebenjobs. Aber das Interesse an einer Ausbildung ist kaum da. Die Gefühlsskala der jungen Erwachsenen schwanke zwischen mangelndem Selbstwertgefühl und überhöhtem Selbstbewusstsein, konstatierten die Forscher. Viele seien auch schlicht überfordert mit dem Angebot an Möglichkeiten, das nach der Schule auf sie einstürmt. Und dann kam auch noch die Corona-Pandemie, die alles erschwerte. Umso wichtiger seien eine persönliche Betreuung mit geschultem Personal und „vorstrukturierte Unterstützungsangebote“, folgert das Institut.

Dieses Fazit unterstützt nicht nur den Ansatz der „Joblinge“, einer Initiative, die sich um langzeitarbeitslose Jugendliche kümmert. Es stimmt überein mit anderen Analysen und zeigt Handlungsbedarf. Denn für alle Ungelernten gilt: Das Risiko, zukünftig weniger zu verdienen, öfter und länger arbeitslos zu sein, ist hoch. Gleichzeitig sind die Chancen, den Weg in eine Ausbildung zu finden, angesichts des Fachkräftemangels gut.

Es werden praxiserfahrene Botschafter aus Unternehmen und Kammern gebraucht.
Thomas Giessler

Als ein wesentlicher Hebel gilt die Berufsorientierung – die Angebote in den Schulen und Jugendberufsagenturen, über die Schülerinnen und Schüler erstmals in Kontakt mit der Berufswelt kommen. „Wir müssen deutlich mehr Energie und Zeit in die Berufsorientierung stecken. Die wird zwar flächendeckend angeboten, aber es fehlen Konzepte sowie die Zeit für Vor- und Nachbereitung. Die Schulen schaffen es nicht, das auch noch zu stemmen“, sagt Claudia Burkard, Projektmanagerin zum Thema Bildung bei der Bertelsmann Stiftung. „Die Berufsvorbereitung ist nicht gut verankert“, kritisiert auch Thomas Giessler, Ausbildungsexperte beim Deutschen Gewerkschaftsbund. „Jedes Land, jede Schule hat eigene Regeln und Konzepte. Es fehlen eine Systematik und eine klare Verantwortlichkeit.“

Individuelle Ansprache

Sowohl Burkard als auch Giessler fordern vor allem mehr individuelle Unterstützung. Nur so komme man an Unorientierte ran, die keinen Plan haben und sich nicht bewerben, sagt Giessler. „Für diese individuellen Gespräche fehlen die Kapazitäten. Lehrkräfte haben zudem keine Expertise: Was gebraucht wird, sind Botschafter aus den Kammern oder Unternehmen mit Praxiserfahrung.“

Viel mehr Unterstützung bräuchten vor allem die jugendlichen Migrantinnen und Migranten. „Sie kennen oft das Ausbildungssystem nicht, also können die Eltern sie schlecht unterstützen – die sind aber der Hauptratgeber“, sagt Burkard. Die Eltern kämpften häufig erst mal ums eigene Vorwärtskommen.

Wir müssen mehr Energie und Zeit in die Berufs­orientierung stecken.
Claudia Burkard

Von der 2023 beschlossenen Ausbildungsgarantie, die im April startet, erwartet Burkard nicht viel. „Die Ausbildungsgarantie, die jetzt kommt, will eigentlich keiner. Denn sie bietet nur dort eine Ausbildung an, wo es zu wenig Ausbildungsplätze gibt. Das größere Problem gibt es aber dort, wo ein Betrieb mit dem Wunschberuf und der Jugendliche nicht zusammenkommen, also der Betrieb den jungen Menschen nicht will oder der junge Mensch nicht in diesen Betrieb. In Österreich löst man das anders. Da wird in dieser Situa­tion das erste Ausbildungsjahr finanziell unterstützt und von einem Träger begleitet. So weiß der Betrieb, dass er nicht im ersten Jahr die volle Last tragen muss, und ist eher bereit, die Bewerberin zu nehmen.“ Auch der DGB hält die Garantie für „Augenwischerei“. Wer den Sprung in den Betrieb trotz Hilfe nicht geschafft habe, lande weiterhin meist in der Warteschleife.

Eine Stadt scheint das Problem allerdings besser im Griff zu haben, loben Burkard und Giessler: Hamburg. Kein Schüler soll nach der 10. Klasse im Übergang zur Ausbildung verloren gehen, hatte sich die Stadt vor zehn Jahren vorgenommen, unter Bürgermeister Olaf Scholz. So wurden ein neues Schulfach „Berufs- und Studienorientierung“ eingeführt, die Zusammenarbeit mit den Jugendberufsagenturen verbessert und die Begleitung der Jugendlichen intensiviert. Im vergangenen Jahr wechselte fast die Hälfte der Jugendlichen direkt nach der Schule in eine Ausbildung, weitere in die Ausbildungsvorbereitung. Ein Rekord. Die neue Strategie ging auf.

Ella Posthus arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin in Berlin und Brandenburg. Ihre Themen sind vor allem Bildung und Berufsausbildung.

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