Demokratie und Freiheit

Liberalismus vs. Populismus:
Die neue politische
Plattentektonik

In der Vergangenheit war der Liberalismus oft in der Mitte zweier rivalisierender politischer Achsen gefangen. Heute jedoch entwickelt er sich zu einem eigenständigen Gravitationszentrum und kann neue strategische Kraft entfalten. Diese Veränderung hat tiefgreifende Implikationen für die Art und Weise, wie wir Politik verstehen.

Text: Sven Gerst | Illustrationen: Marta Kochanek

Demokratie und Freiheit

Liberalismus vs.
Populismus:
Die neue politische Plattentektonik

In der Vergangenheit war der Liberalismus oft in der Mitte zweier rivalisierender politischer Achsen gefangen. Heute jedoch entwickelt er sich zu einem eigenständigen Gravitationszentrum und kann neue strategische Kraft entfalten. Diese Veränderung hat tiefgreifende Implikationen für die Art und Weise, wie wir Politik verstehen.

Text: Sven Gerst | Illustrationen: Marta Kochanek


Unsere politische Welt war lange in ein binäres Schema von links und rechts eingeteilt. Für Liberale war dies stets unbefriedigend, da eine revolutionäre und avantgardistische Denkrichtung wie der Liberalismus schwerlich als „mittig“ zu bezeichnen ist. Dennoch sind viele in dieser Denkweise sozialisiert worden. Dabei ist die Unterscheidung in links und rechts nicht nur eine historische Gegebenheit, sondern entspringt einer fundamentalen politischen Metaphysik.

Die Bedeutung von links und rechts verändert sich mit dem Zeitgeist und ist weniger philosophischer Natur als ein Ausdruck der politischen Realität. Historiker wie Stephen Davies sprechen von einem „Great Political Realignment“, einem Prozess der politischen Neuausrichtung, der Diskurse, Analysen und strategische Ausrichtungen beeinflusst. Dieser Prozess hat Konsequenzen für den Liberalismus, der in den vergangenen Jahrzehnten oft zwischen den Polen gefangen war, nun jedoch aus dieser Position herauszutreten beginnt.

Bereits seit einiger Zeit lässt sich jedoch eine Unzufriedenheit mit dem bestehenden Vokabular feststellen, besonders beim Versuch, neue politische Figuren wie Donald Trump, Marine Le Pen oder Narendra Modi einzuordnen. Diese wurden pauschal als „rechts“ verortet, obwohl ihre Programme teils widersprüchlich sind. Das führte zu der Annahme, der Populismus sei ein neues Phänomen, welches das alte Links-rechts-Schema aufbricht. In Wirklichkeit ist er ein Resultat der Verschiebung unserer etablierten Plattentektonik. Das Vokabular mag sich verändert haben, die Betrachtungslogik bleibt jedoch erhalten.

Um diese Verschiebung zu verstehen, lohnt es sich, die Struktur der politischen Zyklen zu betrachten. Anders als historische Epochen, die durch tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen geprägt sind, handelt es sich hier um Phänomene, die durch zeitgeistliche Anpassungen des gesellschaftlichen Diskurses entstehen. Moderne Gesellschaften haben unzählige politische Themen, von Klimaschutz bis zu Migration, doch nur wenige Themen besitzen genug Relevanz, um den öffentlichen Diskurs zu dominieren. Jeder Zyklus kristallisiert ein oder zwei paradigmatische Fragen heraus, anhand derer sich politische Lager bilden.

Der abklingende Zyklus der Nachkriegszeit fokussierte sich auf die Frage der Rolle des Staates in wirtschaftlichen und sozialen Prozessen. Dies führte zu folgenden Blöcken:

  • Sozialdemokraten: wirtschaftlicher Interventionismus, Umverteilung, Bürgerrechte.
  • Reformkonservative: Marktwirtschaft, konservative Werte, gegen Umverteilung.
  • Konsequente Liberale: Marktwirtschaft, skeptisch gegenüber Umverteilung, Bürgerrechte.
  • Konsequente Autoritäre: wirtschaftlicher Interventionismus, nationale Umverteilung, kulturell und sozial konservativ.

Diese Einteilung prägte die politische Landschaft Europas und Nordamerikas. Der Liberalismus war dabei auf die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers für entweder die Sozialdemokraten oder die Reformkonservativen reduziert. Doch aus heutiger Sicht fühlt sich dieses Schema antiquiert an – es erscheint wie „Boomer Politics“. Die Fragen von heute betreffen Identität und Globalisierung.

Im neuen Zyklus stehen sich diese Blöcke gegenüber:

  • Kosmopolitische Liberale: Globalisierung, Marktwirtschaft, Bürgerrechte.
  • Nationale Kollektivisten (Populisten): nationalistisch, Staatsdirigismus, traditionalistische Identitätspolitik.
  • Neue Linke: Globalisierung, Sozialismus Light (z. B. beim Umweltschutz), radikale Identitätspolitik.
  • Nationale Liberale: nationalistisch, Marktwirtschaft, kulturell und sozial konservativ.

In einer zunehmend multikulturellen, technologisierten und auch technokratisierten Welt hat sich der gesellschaftliche Diskurs verschoben: weg von eher pragmatischen Fragen der Wirtschaftsordnung und hin zu elementaren Fragen der Identitätspolitik und der globalen Integration. So ergeben sich zwei neue Pole mit elementar gegensätzlichen Visionen: die offene Gesellschaft des Liberalismus in Opposition zur geschlossenen Gesellschaft der Populisten. Und das ist genau das, was wir in den USA (Biden vs. Trump) oder Frankreich (Macron vs. Le Pen) aktuell sehen. Aber nicht nur dort: Dieser Denkansatz erklärt auch die politischen Dynamiken in der Türkei, Israel, Zentral- oder Osteuropa, wo sich breite oppositionelle Koalitionen gegen die Populisten Erdoğan, Netanyahu oder Orbán zusammenschließen. 

Deutschland passt auf den ersten Blick nicht in dieses Schema. Der Grund liegt oft in der alten Interpretationslogik. Doch auch hier haben sich neue politische Achsen gebildet: Auf der einen Seite stehen Populisten der AfD und BSW, auf der anderen die liberalen Demokraten. Das Festhalten an alten Kategorien erschwert es Liberalen, Parteien wie SPD, CDU oder die Grünen als dauerhafte Partner zu sehen. In anderen Ländern bestehen solche Berührungsängste weniger. Hier muss man in Deutschland aufholen. Denn auch bei uns heißt das neue „Rechts oder links?“ nun „Liberal oder populistisch?“.

Für den Liberalismus bedeutet das vor allem Emanzipation. Er ist nicht länger in der Mitte gefangen, sondern befindet sich in einer „Pole Position“. Diese Rolle muss jedoch aktiv ausgefüllt werden. Die FDP hat jetzt die große Chance, diese Führungsposition innerhalb der „kosmopolitischen Liberalen“ einzunehmen. Die Liberalen sind mit ihrem einzigartigen Angebot aus internationaler Kooperation und Integration, Vertrauen in marktwirtschaftliche Dynamiken und ihrem Einsatz für Bürger- und Menschenrechte der Hauptkontrast und der natürliche Gegenpol zur AfD.

Es ist deshalb von größter Relevanz, dass der aktuelle Koalitionsbruch als realpolitisches Scheitern verstanden wird und nicht etwa als ein Begräbnis breiter demokratischer Bündnisse. Der FDP bietet sich nun die Chance, sich als emanzipierte politische Kraft zu etablieren. Denn während die Neue Linke (Grüne und SPD) als ideale Projektionsfläche für den Frust populistischer Protestwähler dient und die Nationalkonservativen (CDU/CSU) in Abgrenzungsdebatten gefangen sind, gilt es für den Liberalismus, die Rolle des Antreibers und Brückenbauers für die Idee der offenen Gesellschaft einzunehmen und auszufüllen.

Wie das geht, zeigt das Beispiel Polen. Dort haben Liberale diese Verschiebung der traditionellen politischen Architektur frühzeitig erkannt und nun auch realpolitisch umgesetzt. Beim Wahlsieg über die populistische PiS-Partei im vergangenen Oktober vereinte Donald Tusk eine buntgemischte Opposition. Deren Koalition ergibt aus Sicht des traditionellen Links-rechts-Schemas wenig Sinn. Das macht aber nichts, denn in der neuen Zeitrechnung geht es vielmehr um die Verteidigung der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft. Und hier muss der politisch organisierte Liberalismus als treibende Kraft auftreten!

Sven Gerst ist Philosoph und ehemaliger Generalsekretär des internationalen Dachverbands IFLRY. Er hat Politische Ökonomie und Philosophie am King’s College London und an der London School of Economics studiert sowie seinen Master in Management an der Universität Mannheim abgeschlossen.

Sven Gerst ist Philosoph und ehemaliger Generalsekretär des internationalen Dachverbands IFLRY. Er hat Politische Ökonomie und Philosophie am King’s College London und an der London School of Economics studiert sowie seinen Master in Management an der Universität Mannheim abgeschlossen.

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