FUNDSTÜCK
Der Soziologe Georg Simmel war gebürtiger Berliner und untersuchte, wie das Leben in der Stadt die Individualität der Menschen formt und verändert. Das Thema ist bis heute virulent.
Text: Thomas Volkmann
FUNDSTÜCK
Der Soziologe Georg Simmel war gebürtiger Berliner und untersuchte, wie das Leben in der Stadt die Individualität der Menschen formt und verändert. Das Thema ist bis heute virulent.
Text: Thomas Volkmann
Mit diesem Text stehen wir in der Geburtsstunde und an der Wiege der Stadtsoziologie. Und wir erkennen: -Der „Theoretiker des Urbanen“, der große Soziologe Georg Simmel, ist ein Skeptiker, ein Kritiker des Lebens in Großstädten. Er bewertet die Funktionalität städtischen Lebens, indem er nach kulturphilosophischen Maßstäben darüber reflektiert und die Auswirkung großstädtischen Lebens auf Individualität und Persönlichkeit prüft. Der geborene Berliner hat – das kann man klar sagen – eine Antipathie gegen übertriebene Formen von Urbanität. Die im Text genannte „Steigerung des Nervenlebens“, die der Großstädter erlebt, ist für ihn professionell, intellektuell vernünftig – aber nicht positiv, denn die urbane Gesellschaft vergesellschaftet das Individuum. Den heutigen Begriff der Landflucht würde er intellektuell wie emotional möglicherweise nicht nachvollziehen können.
Georg Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“, 1903. Suhrkamp, Berlin (2021), 80 Seiten
Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren – die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat. (…)
Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes. (…)
So schafft der Typus des Großstädters, – der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist – sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande, dem die Steigerung des Bewußtseins, wie dieselbe Ursache sie erzeugte, die seelische Prärogative verschafft; damit ist die Reaktion auf jene Erscheinungen in das am wenigsten empfindliche, von den Tiefen der Persönlichkeit am weitesten abstehende psychische Organ verlegt. Diese Verstandesmäßigkeit, so als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt erkannt, verzweigt sich in und mit vielfachen Einzelerscheinungen.
Thomas Volkmann ist Stellvertretender Leiter des Liberalen Instituts. Er wurde in Bochum geboren und geprägt und hat ein Magisterstudium der Fächer Sozialwissenschaften / Schwerpunkt Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der FernUniversität Hagen abgeschlossen.
Thomas Volkmann ist Stellvertretender Leiter des Liberalen Instituts. Er wurde in Bochum geboren und geprägt und hat ein Magisterstudium der Fächer Sozialwissenschaften / Schwerpunkt Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der FernUniversität Hagen abgeschlossen.
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