Der Geschäftsführer der Deutsch-Schwedischen Handelskammer, Ralph-Georg Tischer, über die Krise, die Kreativität der Wirtschaft und die Investitionsfreude in Schweden.
INTERVIEW: ANDERS MERTZLUFFT
Der Geschäftsführer der Deutsch-Schwedischen Handelskammer, Ralph-Georg Tischer, über die Krise, die Kreativität der Wirtschaft und die Investitionsfreude in Schweden.
INTERVIEW: ANDERS MERTZLUFFT
Einen Lockdown hat es in Schweden in der Coronapandemie nie gegeben. War das eine politische oder eine kulturelle Entscheidung?
Das war sicher eine kulturelle Angelegenheit. Auch andere Krisen würden in Schweden ähnlich gehandhabt. Das hiesige Grundvertrauen gegenüber der Eigenverantwortung, eine größere gesellschaftliche Coolness, die Liebe zum Konsens, gepaart mit großem Zutrauen zum Staat, der das Land erfolgreich durch viele Krisen geführt hat – all das führte dazu, dass ein gesellschaftlicher Lockdown zu keiner Zeit vorstellbar erschien. Die Regierung sprach immer nur Empfehlungen aus, denen die Gesellschaft folgte und die damit letztlich doch wie Gebote wirkten.
Inzwischen sind so gut wie alle Coronamaßnahmen aufgehoben. Wie beurteilen Sie nun die Regierungspolitik?
Betrachtet man das Infektionsgeschehen über die Zeit, steht Schweden nur ein wenig schlechter da als Deutschland. Besonders in der ersten Welle gab es aber relativ betrachtet mehr Tote, insbesondere im privatisierten Pflegewesen. Schweden kümmert sich viel um die Jungen, aber zu wenig um die Alten. Hinzu kamen die spürbaren Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems. Wer die Einheitsversicherung befürwortet, sollte nach Schweden schauen. Die Lernkurven nach der ersten Welle führten dann zu einer Angleichung des Infektionsgeschehens. Auf jeden Fall ist die schwedische Gesellschaft unaufgeregter durch die Krise gekommen. Und ökonomisch steht Schweden besser da.
Finanzministerin Magdalena Andersson geht von einem Anstieg des schwedischen BIP von 4,4 Prozent in diesem Jahr aus. Wie war ein solches Wachstum möglich?
Das „Mindset“ hat entscheidend geholfen. Die Digitalisierung musste nicht durch die Pandemie beschleunigt werden, sie war schon da: Die Firmen, die schon vor Corona wussten, was ein Zoom- oder Teams-Meeting ist; die Schulen und Universitäten, die E-Schooling kannten und in die Praxis umsetzten; die Behörden, die E-Government leben. Auch das Familienmodell, wo sich selbstverständlich beide Eltern um die Erziehung der Kinder kümmern, hilft in solchen Momenten. Hinzu kommt: Eine kleinere Volkswirtschaft, mit einer höheren Flexibilität, kann sich in Krisen besser anpassen.
In Schweden gibt es keinen Mittelstand wie in Deutschland, aber wichtige Großkonzerne. Wie würden Sie dieses Wirtschaftsmodell beschreiben?
Das schwedische Wirtschaftsmodell beruht auf diesen besonderen Unternehmensgrößen. Es gibt große globale Player, die alle kennen. Und hinzu kommen kleine Unternehmen, die unglaublich innovativ sind. Neue Ideen werden zwar nicht immer zur Marktreife entwickelt, aber es gibt viele Kooperationen. Die großen Unternehmen haben in dieser Struktur gelernt, sich zusammen mit den Kleinen zu bewegen. Die Kreativität ist beeindruckend.
Die Banken sind schon lange digitalisiert. Lernen die Großen von den Kleinen?
Nein, beide lernen vom Markt. Jede Kooperation in Schweden, auch im Bankenwesen, lebt vom Wettbewerb. Kooperationen auf Augenhöhe bedeuten auch immer, sich irgendwann trennen zu müssen. Klarna ist ein Beispiel. Als Start-up gegründet, ist das Unternehmen mittlerweile größer als einige schwedische Banken. Und Klarna entwickelt sich längst zu einem umfassenden digitalen Finanzdienstleister. Ein Kunde im Norden hat eben andere Anforderungen. In Deutschland wird gejammert, wenn eine Filiale zumacht. Meine Bank hat gar keine mehr.
Die Regierung sprach immer nur Empfehlungen aus, denen die Gesellschaft folgte und die damit wie Gebote wirkten.
Stockholm hat pro Kopf mehr Tech-Unicorns hervorgebracht als jede andere Region der Welt, mit Ausnahme des Silicon Valleys. Gibt es ein besonderes „Ökosystem“ oder machen flache Hierarchien und informelle Netzwerke den Erfolg aus?
Der Schlüssel für den schwedischen Erfolg liegt in den Reformen der Neunziger, als das Land ökonomisch am Boden lag. Ein Ergebnis: Schon Ende der Neunziger gab es in allen Haushalten eine digitale Grundausstattung, die mit staatlicher Förderung ausgerollt wurde. Das sind die Vorteile einer zentral gesteuerten Politik. Das brach auch bei einem Regierungswechsel vom linken zum bürgerlichen Lager nicht ab. Alle Parteien sind sich einig, dass die Digitalisierung notwendige Basis für alle Reformen ist – gestern wie heute.
Doch zu einer Gesamtschau gehören auch die Reste einer sozialdemokratischen Politik. Denken Sie an die Versuche einer Lockerung der Wohnraumbewirtschaftung, über die Stefan Löfven gerade gestolpert ist.
Warum wird in Schweden so viel investiert?
In diesem Land, in dem es seit mehr als 200 Jahren keinen Krieg gab und in dem es sehr vermögende Familien gibt, ist unglaublich viel Geld „unterwegs“. Und es gibt viele Leute, die als Risikokapitalgeber an den Börsen oder außerbörslich investieren – und zwar mutiger und risikofreudiger als in Deutschland. Die schwedische Börse ist eine der erfolgreichsten der Welt. Schweden folgt einerseits einem sozialdemokratisch geprägten Gesellschaftsmodell, und andererseits gibt es diese beeindruckende Innovationskraft und viel mobiles Kapital, das in einer eher liberalisierten Volkswirtschaft hochintelligent investiert wird.
Ministerpräsident Löfven tritt im November zurück. Beobachter erwarten, dass Magdalena Andersson dann Premierministerin werden könnte. Was erwarten Sie von ihr?
Erst einmal müssen sich die Sozialdemokraten entscheiden – und nächstes Jahr stehen Wahlen an.
Wie groß sind die wirtschaftspoli-
tischen Unterschiede zwischen dem sozialdemokratischen und bürger-
lichen Block?
In der Wirtschafts- und Finanzpolitik verlässt keiner der Blöcke den Weg einer grundsätzlich liberalen Ausrichtung. Da wird sich sehr wenig ändern. Anders sieht es auf gesellschaftspolitischen Feldern wie Wohnraumbewirtschaftung, der Pflege oder dem Ausbildungssektor aus. Da gibt es sicherlich konträre Vorstellungen in der Politik.
Was ändert sich für Schweden durch den Brexit?
Der Handel mit dem Vereinigten Königreich hat sich schleichend und nun auch spürbar reduziert. Die schwedische Wirtschaft und auch Politik orientiert sich deutlich Richtung Deutschland. Dadurch offenbart sich eine neue, eigentlich vergessene Nähe, die auch die Deutschen nutzen sollten.
Ralph-Georg Tischer ist
Geschäftsführer der Deutsch-Schwedischen Handelskammer (AHK Schweden).