Der Künstler Jürgen Goertz fordert mit seinen Skulpturen die Gesellschaft zum gedanklichen Widerspruch auf.
TEXT: JÜRGEN MORLOK
Der Künstler Jürgen Goertz fordert mit seinen Skulpturen die Gesellschaft zum gedanklichen Widerspruch auf.
TEXT: JÜRGEN MORLOK
Mit seinen teilweise bewusst provozierenden Plastiken ist Jürgen Goertz im öffentlichen Raum präsent: Vor dem Berliner Hauptbahnhof krümmt sich sein gigantisches, 35 Tonnen wiegendes „Rolling Horse“ aus Edelstahl, Aluminium, Kunststoff, Glas und Stein; in Germersheim werben seine „Flügel der Fantasie“ auf dem Königsplatz für Frieden; vor dem badischen Staatstheater Karlsruhe wartet sein „Musengaul“, der sich in der Bevölkerung, wie der Künstler sagt, zum „vitalen Zeichen geistiger Freiheit, zum demokratisch-pluralistischen Dreibeiner“ entwickelt hat. Weit über 100 Arbeiten in mehr als 70 Städten zwischen Flensburg und Bodensee und von Karlsruhe nach München sorgen für Gesprächsstoff und Auseinandersetzungen. Eine davon steht direkt vor seinem Wohnhaus – dem barocken Rentamt im badischen Eichtersheim. Die Skulptur „Heckers Traum – der Freiheit eine Gasse“ erinnert an den badischen liberalen Freiheitskämpfer Friedrich Hecker (1811–1881), der hier geboren wurde.
Die Anfänge des inzwischen international bekannten Bildhauers liegen direkt neben dem barocken Prunkbau. In der profanisierten und damals vor dem Verfall stehenden Schlosskapelle der ehemaligen Barone von Venningen begann Goertz nach seinem Studium an der Kunstakademie Karlsruhe seine Karriere.
Das Kirchenschiff wurde zum Atelier umfunktioniert, die Empore diente der Familie als Wohnung. Inzwischen ist der 1939 zwischen Breslau und Posen geborene Künstler in Eichtersheim (bei Heidelberg) längst heimisch geworden. Er schätzt, wie er sagt, „die badische Liberalität“ ganz besonders.
Auch wenn er sich für einen „eigentlich apolitisch handelnden Menschen“ hält, hat die Freiheit für Goertz’ Kunst große Bedeutung. Er nimmt sich seine Freiheit und fordert dazu auf, dieser gelassen zu begegnen. Im Katalog zur mehrwöchigen Ausstellung seiner damals bedeutendsten Arbeiten vor dem Berliner Reichstag in den frühen Neunzigerjahren warnte er, dass Politik und Kunst nur selten eine gute Ehe miteinander eingegangen seien. „Kunst als Vehikel politischer Propaganda war mir somit kein Vorbild, wurde mir stattdessen zur Warnung.“ Er selbst bezeichnete sich als „Ausbund eines demokratischen Kindes, das seine persönlichen und künstlerischen Freiheiten voll nutzt“. Mit seiner Kunst fordere er die pluralistische Gesellschaft zum gedanklichen Widerspruch heraus und erwarte von ihr „besonnene Toleranz und Respekt vor der Meinung und Leistung“ anderer.
Im Vordergrund die Großplastik Chariot 1889 (Wagenlenker), im Hintergrund links die ehemalige Schlosskapelle, heute das Atelier von Jürgen Goertz, und daneben das Rentamt in Eichtersheim.
Mit fast 10 Metern Höhe und einem Gewicht von 35 Tonnen ein Schwergewicht unter den Arbeiten von Jürgen Goertz: Das Rolling Horse steht auf der nördlichen Terrasse vor dem Berliner Hauptbahnhof.
Jürgen Goertz wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg im Wendland auf und studierte von 1963 bis 1966 an der Kunstakademie Karlsruhe Bildhauerei. Er schloss das Studium mit dem Examen für Kunsterziehung ab. In den Jahren 1971 und 1972 erhielt er einen Lehrauftrag an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe.
Die bisherige Krönung seines Lebenswerks war die Ausstellung „Der allegorische Blick“ auf der Heidelberger Schlossterrasse. Anlässlich seines 80. Geburtstags wurden die Schlüsselwerke des Bildhauers seit 1974 im spannungsvollen Dialog mit der berühmten Heidelberger Schlossruine gezeigt. „Es war an der Zeit, dem Künstler Jürgen Goertz eine große Ausstellung zu widmen“, erklärte Michael Hörmann, Geschäftsführer der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Komplettiert wurde die Schau durch die schönen neuen Schöpfungen für den neuerrichteten „Gläsernen Saalbau“.
Darunter auch 24 prägnant stilisierte Porträtköpfe, auf denen die Stahlbögen des modernen Glasdachs ruhten und den Blick auf Teile der historischen Schlossruine freigaben. Verschiedene größere und verzierende kleine Plastiken des Künstlers ergänzten das Gesamtkunstwerk, das laut Kunsthistorikerin Ricarda Geib Kunst und politisches Denken „virtuos verbindet“. Alles nachzusehen in dem herrlich bebilderten, großformatigen Katalogbuch „Der allegorische Blick. Jürgen Goertz“, erschienen 2020 im verlag regionalkultur.
Jürgen Morlok, geb. 1945, ist seit Dezember 2020 Ehrenvorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er war über 39 Jahre reguläres Mitglied des Kuratoriums der Stiftung, 24 Jahre davon als Vorsitzender. Er ist zudem Ehrenvorsitzender der FDP Baden- Württemberg. Neben zahlreichen Stationen in Politik und Wirtschaft war Jürgen Morlok bis Oktober 2011 Professor an der Karlshochschule International University.