Liberalismus

Liberale Metapolitik oder die Kunst des Konflikts

Der Begriff „Liberalismus“ ist fast zum Schimpfwort geworden. Politisch Rechten dient er in der anglophonen Welt als Synonym für spaltenden Kulturkampf. Links wird er oft als „Neoliberalismus“ verurteilt, der eine kalte Herrschaft der Märkte verlangt. Dabei ist der Liberalismus unter politischen geistigen Strömungen diejenige, die, historisch bedingt, die Vermittlung zwischen Konflikten in Entscheidungsprozesse einbezogen hat. Liberale sind Menschen der Mitte – und das wird ihnen oft vorgeworfen. Ein kurzer historischer Abriss einer notwendigen Geisteshaltung.

Text: Christopher Clark

Der Begriff „liberal“ geht auf die römische Antike zurück, wo er das großzügige, am Gemeinwohl orientierte Verhalten eines Bürgers bezeichnete. Erst mit den Napoleonischen Kriegen wurde er zur diffusen Bezeichnung einer spezifischen Form der Politik. Diese „semantische Verbreiterung“ war ein Zeichen für seinen Erfolg in den öffentlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts, macht aber die Suche nach begrifflicher Eindeutigkeit quasi unmöglich.

Liberalismus

Liberale Metapolitik oder die Kunst des Konflikts

Der Begriff „Liberalismus“ ist fast zum Schimpfwort geworden. Politisch Rechten dient er in der anglophonen Welt als Synonym für spaltenden Kulturkampf. Links wird er oft als „Neoliberalismus“ verurteilt, der eine kalte Herrschaft der Märkte verlangt. Dabei ist der Liberalismus unter politischen geistigen Strömungen diejenige, die, historisch bedingt, die Vermittlung zwischen Konflikten in Entscheidungsprozesse einbezogen hat. Liberale sind Menschen der Mitte – und das wird ihnen oft vorgeworfen. Ein kurzer historischer Abriss einer notwendigen Geisteshaltung.

Text: Christopher Clark


Die ersten Menschen, die sich selbst als „Liberale“ bezeichneten, waren jene, die die Zunftprivilegien und die Hierarchien des Ancien Régime ablehnten, aber auch den Autoritarismus des jakobinischen Terrors und der napoleonischen Herrschaft. Einen Mittelweg zwischen diesen Extremen zu finden war nicht einfach. Es bedeutete, den Wert der Französischen Revolution zu bekräftigen, aber den Staatsterror als „Irrtum“ abzulehnen; es bedeutete, die Privilegien der Geburt abzulehnen, aber das Privileg des Reichtums zu bekräftigen, was für Liberale kein Privileg war, denn Reichtum ist im Gegensatz zur Geburt – zumindest in der Theorie – verdient. Es bedeutete auch, politische Gleichheit zu fordern, ohne auf sozialer Gleichheit zu bestehen; es bedeutete, Repräsentation zu befürworten und die Demokratie abzulehnen; es bedeutete, das Prinzip der Volkssouveränität zu bekräftigen, aber auch diese Souveränität einzuschränken, damit sie nicht die Freiheit gefährdet.

Leidenschaft für Versöhnung und Gesetz

Für die politische Denkerin Germaine de Staël bedeutete die Entscheidung für liberale Prinzipien, die Freiheit der Republiken mit der Ruhe der Monarchien zu kombinieren: Es könne, so schrieb die Schweizerin 1797, „keine Ruhe ohne Versöhnung, keine Gelassenheit ohne Toleranz geben“.

Diese Leidenschaft für Versöhnung und Gesetz erklärt eine der merkwürdigsten Eigenschaften der Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts, nämlich die Überzeugung, dass ihre Politik keine „Ideologie“ im Sinne einer allumfassenden Vision oder Theorie war, sondern eine Ansammlung von „grundlegenden kulturellen Postulaten“, ein Werkzeugkasten für das Management von Interessenkonflikten. In diesem Sinne war es eine Art Metapolitik, liebenswert in ihrer Offenheit für alle, aber auch anfällig für den Vorwurf, leer und ohne positiven Inhalt zu sein.

Die ersten Liberalen lehnten Zunftprivilegien und Hierarchien des Ancien Régime genauso ab wie den herrschenden Autoritarismus.

Repräsentation und ­Demokratie

Liberale waren Befürworter der repräsentativen Regierung. Sie wollten für das Volk sprechen. Aber mit „dem Volk“ meinten sie eigentlich nur gebildete männliche Steuerzahler. Die Versammlung, in der die Vertreter zusammenkamen, sollte nicht ein verkümmertes Abbild der gesamten Bevölkerung sein, sondern die verdienstvollsten und würdigsten Elemente der Nation verkörpern. Liberale waren keine Demokraten; sie glaubten an ein begrenztes Wahlrecht. Sie rechtfertigten dies sowohl durch die Anarchie in den gewalttätigsten Jahren der Französischen Revolution als auch durch die Vorstellung einer künftigen Gesellschaft, in der das Wachstum des Wohlstands und die Verbesserung der Bildung bedeuten würden, dass ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung in das politische Leben des Staates eintreten würde. Diese soziale Begrenzung der Reichweite des Liberalismus sollte schwer auf seiner Zukunft lasten.

Politik des Gleichgewichts

Liberale waren stolz auf den untheoretischen Charakter ihrer Politik, ihre Ausrichtung auf praktische Realitäten. Eine auf die Vorteile der Gesellschaft ausgerichtete Politik, so schrieb der spanische Liberale Martínez de la Rosa, dürfe „weder in alten Privilegien noch in primitiven Rechten bestehen, Abstraktionen, die aus einem imaginären Naturzustand abgeleitet sind, sondern in tatsächlichen Interessen“. Sie dürfe nicht darauf begründet sein, wie die Dinge einst waren oder eines Tages sein könnten, sondern nur auf „dem aktuellen Zustand der Nationen und der Menschen, so wie sie sind“. Hier war wieder dieser metapolitische Anspruch, eine Politik des Gleichgewichts anzubieten, deren Inhalt erst bestimmt werden würde, wenn die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte miteinander in Dialog gebracht würden.

Liberale akzeptierten und integrierten die Idee des Konflikts – den Konflikt zwischen Fraktionen, Interessen, Klassen – in ihre Politik.

Dies ist ein wichtiger Punkt. Liberale akzeptierten und integrierten die Idee des Konflikts – den Konflikt zwischen Fraktionen, Interessen, Klassen – in ihre Politik. Dies machte sie ganz anders als Radikale auf der linken Seite, die ihre Politik als Vision einer zukünftigen Harmonie darstellten, in der soziale Konflikte obsolet werden würden. Und es machte sie ganz anders als Konservative, für die der Konflikt zwischen gegensätzlichen Meinungen oder Interessen ein Symptom für Umstürze und den Verlust von Ordnung war. Es ist auch der Grund, warum Liberale – die oft Juristen waren – Verfassungen liebten. „Eine Verfassung“, schrieb der polnische Liberale Franciszek Grzymała in einem Essay von 1820 für die Zeitschrift „Orzeł Biały“ (Weißer Adler), die bald von den russischen Behörden verboten werden sollte, „ist die vorgesehene Zukunft.“ Die Macht von Verfassungen als politischem Instrument, argumentierte Grzymała, lag in ihrer mehrdeutigen, ausgewogenen Qualität. Sie waren nicht weniger als ein „Friedensvertrag zwischen allen Ständen, Parteien, Klassen und sogar Antagonismen“. Liberale in ganz Europa sahen in dieser mäßigenden Qualität von Verfassungen einen Preis von immensem Wert.

Liberalismus-Varianten

Liberale waren sich der „moral panic“ um die soziale Frage in der Mitte des 19. Jahrhunderts schmerzlich bewusst, neigten jedoch dazu, politische Lösungen sozialen vorzuziehen. Nicht alle Liberalen schreckten vor dem Problem der Ungleichheit zurück. Aber wie sie es handhabten, hing von anderen Verpflichtungen ab: Protektionistische Liberale neigten eher zu interventionistischen staatlichen Maßnahmen, um das Wohlergehen der niedrigsten sozialen Schichten zu sichern; Freihändler eher dazu, den Rückzug des Staates aus allen regulatorischen Verpflichtungen und das „Entfesseln“ unternehmerischer Energien als Schlüssel zu einer Lösung zu sehen.

Und Liberale mochten Märkte. In einer Ära, in der Märkte von mächtigen globalen Entitäten wie Google und Amazon dominiert werden, ist es schwer, den subversiven Zauber nachzuvollziehen, der in dieser Ära noch an der Idee des Marktes haftete. Märkte waren weder herrschaftlich noch feudalistisch, sie repräsentierten keine königliche Macht, sie waren nicht kirchlich. Aber wie frei sollte der „Freihandel“ sein? Bei Fragen wie dieser zeigte der Liberalismus trotz der Universalität seiner Sprache starke regionale Variationen.

Wie Politik gemacht werden sollte

Aber wenn Liberale für Verfassungen, Parlamente und die Pressefreiheit argumentierten, wenn sie auf veröffentlichten parlamentarischen Debatten und geordneten öffentlichen Auseinandersetzungen als einzige Mittel zur Lösung großer Staatsfragen ohne Rückgriff auf Tyrannei bestanden, wenn sie verlangten, dass die Regierung die Rechtsstaatlichkeit respektiert, dann setzten sie sich für etwas von unschätzbarem und universellem Wert ein. Dies war die Metapolitik des Liberalismus, eine Politik, die sich darauf konzentrierte, wie Politik gemacht werden sollte. Sie ist heute genauso unverzichtbar wie im 19. Jahrhundert.

1848: Liberale und Radikale

Für die Liberalen des mittleren 19. Jahrhunderts brachten die Revolutionen von 1848 sowohl Traumata als auch Erfolge. Sie brachten Traumata, weil die Revolutionen – besonders während ihrer zweiten Phase, im Herbst und Winter 1848 und im Frühjahr und Sommer 1849 – auch Wellen radikaler Mobilisierung entfesselten. Es wurde zunehmend klar, dass Liberale und Radikale ein völlig unterschiedliches Verständnis der Revolution hatten. Liberale sahen sie als ein historisches Ereignis, dessen Folgen nun gemanagt und stabilisiert werden mussten. Radikale sahen sie als einen Prozess, der gerade erst begonnen hatte.

Es war 1848 keineswegs klar, dass die Liberalen des Völkerfrühlings von 1848 in der Lage sein würden, die Macht, die sie den alten Monarchien entrissen hatten, zu behalten. An nahezu jedem großen Schauplatz der Revolution setzten sich Prozesse radikaler Mobilisierung fort. Die Liberalen waren darauf bedacht, die Revolution und ihre Errungenschaften gerade in dem Moment zu konsolidieren, als die Mehrheit der liberalen Ziele erreicht zu sein schien. Das Aufkommen einer zunehmend eindrucksvollen und verzweigten linken Volksbewegung, besonders in Frankreich und Deutschland, löste tiefe Ängste unter den Liberalen aus, die sich der Gefahr ausgesetzt sahen, zwischen den Mühlsteinen der Konterrevolution einerseits und der linken Mobilisierung andererseits zermahlen zu werden.

Erfolg ist ein schlechter Lehrmeister

Fast überall in Europa gelang es den Liberalen, die Radikalen zurückzudrängen. In den Jahren nach der Revolution entstanden neue Regierungskonstellationen, in denen gemäßigte Liberale mit reformorientierten Konservativen im Rahmen der neuen Verfassungen und parlamentarischen Systeme, die durch die Revolutionen eingeführt wurden, zusammenarbeiteten. In diesem Sinne gehörten die Liberalen zu den Gewinnern von 1848 und die Radikalen zu den Verlierern.

Aber genau hier lag das Problem: Während das Scheitern ein guter Lehrmeister ist, ist der Sieg es nicht. Die demokratische Linke lernte aus den Rückschlägen von 1848. Sie gab den Katastrophismus und die aufständische Rhetorik von 1848 auf und übernahm ein breites Programm sozialer Verbesserung – das Programm, das schließlich im Aufstieg der Sozialdemokratie und des Wohlfahrtsstaates seinen Ausdruck finden sollte.

Der Liberalismus, den wir heute brauchen, wird intensiv über die sozialen Determinanten der Freiheit nachdenken müssen.

Die Liberalen lernten engere und kleinlichere Lektionen: Bleibe der Macht nahe! Halte die Linke um jeden Preis nieder! Sie zogen sich immer weiter von der universalistischen Metapolitik zurück, die in ihrem Programm latent vorhanden war, hin zu einer partikularistischen Verteidigung von Interessen. Das Gespräch zwischen dem liberalen Zentrum und der Linken, das nie wirklich aufgeblüht war, brach ab. Die Angst vor der Linken drang in das Mark des Liberalismus ein und verkrampfte ihn in eine defensive Haltung, die seine Fähigkeit, den eigenen Horizont zu erweitern, hemmte.in der das Wachstum des Wohlstands und die Verbesserung der Bildung bedeuten würden, dass ein stetig wachsender Teil der Bevölkerung in das politische Leben des Staates eintreten würde. Diese soziale Begrenzung der Reichweite des Liberalismus sollte schwer auf seiner Zukunft lasten.

Metapolitik des Liberalismus

Wie könnten diese Gedanken mit der Situation des Liberalismus in unserer eigenen Zeit in Verbindung gebracht werden? Heute ist das Wort „Liberalismus“ fast ein Schimpfwort. Rechts dient es – in der anglophonen Welt – als Synonym für spaltenden Kulturkampf um Fragen wie Geschlechtsidentität, Vielfalt und Gruppenrechte. Links wird es – oft unter dem Begriff „Neoliberalismus“ – als eine Doktrin verurteilt, die die nackte Herrschaft der Märkte und der großen Konzerne sowie die Hegemonie des Finanzkapitals verficht.

Die Metapolitik des Liberalismus – sein Engagement für die Architektur der politischen Repräsentation, für die Rechtsstaatlichkeit, für Verfassungen, für die gewaltfreie Vermittlung von Interessenkonflikten – bleibt heute so wertvoll und unverzichtbar wie eh und je. Wir brauchen sie heute vielleicht mehr denn je. Der Liberalismus, den wir heute brauchen, ist jedoch nicht die enge Interessenpolitik einer Kieferchirurgenpartei, die sich für die Verteidigung eines besonderen Vorteils einsetzt. Es muss ein erweiterter Liberalismus sein, der an die Hoffnung und den Ehrgeiz der fortschrittlichsten liberalen Bewegungen der Vergangenheit anknüpft.

Der neue Liberalismus wird lange und intensiv über die sozialen Determinanten der Freiheit nachdenken müssen. Er wird tiefer darüber nachdenken müssen, wie wir die Metapolitik des Liberalismus in einer Ära der Polykrise nutzbar machen. Die Anhäufung von Krisen, die ein so charakteristisches Merkmal unserer Gegenwart ist, wird einen beispiellosen Druck auf unsere Fähigkeit ausüben, zu vermitteln, Kompromisse zu schließen und kombinierte Lösungen zu finden. Von den großen Strömungen, die unsere politische Welt geformt haben, ist der Liberalismus diejenige, die am längsten und intensivsten über Prozesse der Vermittlung nachgedacht hat, über die Notwendigkeit, Konflikte in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, die sowohl subtil als auch transparent sind. Die Liberalen waren immer die Menschen der Mitte – und das wurde ihnen oft vorgeworfen. Aber die Mitte ist der Ort, von dem gute Politik kommt, vorausgesetzt, sie ist an beiden Enden offen und bereit für Impulse von rechts und links. Es ist an der Zeit, dass der Liberalismus die Mitte erweitert.

Sir Christopher Clark ist ein australischer Historiker, der in Großbritannien in Cambridge Neuere Europäische Geschichte lehrt. Für seine Verdienste um die deutsch-englischen Beziehungen wurde er 2015 von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen.

Sir Christopher Clark ist ein australischer Historiker, der in Großbritannien in Cambridge Neuere Europäische Geschichte lehrt. Für seine Verdienste um die deutsch-englischen Beziehungen wurde er 2015 von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen.

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