Eisenbahn der Eidgenossen

Nationale Sinnstifter

Was Deutschland von den Eisenbahnen in der Schweiz lernen kann.

Text: Olaf Krohn

Eisenbahn der Eidgenossen

Nationale Sinnstifter

Was Deutschland von den Eisenbahnen in der Schweiz lernen kann.

Text: Olaf Krohn


Graubünden wurde kürzlich zum Schauplatz eines denkwürdigen Weltrekords: Ein fast zwei Kilometer langer Personenzug mit 100 Wagen schlängelte sich durch die atemberaubenden Kehrtunnel der Alpen. Fast wären die Schweizer stolz gewesen auf die Bestleistung ihrer schmalspurigen Rhätischen Bahn. Aber leider hatte ihr Rekordzug 15 Minuten Verspätung. Das mögen die Eidgenossen nicht – und sie sind von ihrer Eisenbahn auch anderes gewohnt.

Denn die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und weitere Bahnen in den Kantonen gelten in ganz Europa als Maßstab und Vorbild eines hochwertigen und effizienten Schienenverkehrs für Menschen und Güter. Zwischen Basel und Bellinzona rollen die Züge normalerweise wie ein präzises Uhrwerk. Warum schauen wir als deutsche Bahnkunden (oder Logistiker) so neidisch und sehnsüchtig über die Grenze?

Natürlich sind SBB & Co. finanziell wesentlich besser ausgestattet als die Deutsche Bahn. Die Schweiz investiert pro Bürger etwa dreimal so viel Steuergeld in ihre Bahninfrastruktur wie die Bundesrepublik. Dass es angesichts einer derart soliden Ausstattung selten Weichen-, Oberleitungs- oder Bahnübergangsstörungen gibt, liegt auf der Hand.

Die Schweiz investiert pro Bürger etwa dreimal so viel Steuergeld in die Bahn wie Deutschland.

Vor 40 Jahren hat die Schweiz das Programm „Bahn 2000“ beschlossen und den Ausbau der Schieneninfrastruktur auf das künftige Fahrplanangebot zugeschnitten. Anders in Deutschland: In den beiden Jahrzehnten nach der Bahnreform (1993) wurden zahlreiche Weichen und Ausweichgleise entlang des Bestandsnetzes beseitigt, was man „Verschlankung“ nannte. Die einschneidenden Sparmaßnahmen aus der Mehdorn-Ära bekommt jeder deutsche Bahnkunde heute zu spüren: Kleinste Unregelmäßigkeiten eines Zugs verursachen viele Verspätungen anderer Züge. Und notwendige Bauarbeiten führen regelmäßig zu massiven Fahrplaneinschränkungen und unkomfortablem Schienenersatzverkehr.

Termintreue Baustellen

Die Schweiz geht auch aufwendige Neubauprojekte nicht nur konsequent an, sondern setzt sie üblicherweise termintreu um: So gingen die beiden Alpenbasistunnel am Lötschberg (2007) und am Gotthard (2016) pünktlich ans Netz. Armutszeugnis für Deutschland: Der zwischen den Regierungen lange vereinbarte viergleisige Ausbau der wichtigen Zubringerstrecke Karlsruhe-Freiburg-Basel wird sich noch Jahre hinziehen. Während die Schweiz also zwei leistungsfähige Tunnel für die Verlagerung von Gütertransporten auf die Schiene geschaffen hat, hinkt die notwendige Infrastruktur in Deutschland hinterher.

Dennoch ist der Schweiz eine bemerkenswerte Trendwende gelungen: Während anderswo immer mehr Lkw rollen, schrumpfte die Zahl der Lastwagen im ökologisch besonders heiklen Alpentransit durch die Schweiz von 1,4 Millionen im Jahr 2001 auf 880 000 im Jahr 2022. Diese Reduzierung um mehr als ein Drittel ist auch das Ergebnis entschlossener verkehrspolitischer Weichenstellungen durch die Eidgenossen, wenngleich das politische Ziel von 650 000 Lkw-Transits bislang verfehlt wurde.

Die Priorisierung der Bahn gegenüber der Autobahn im Güterverkehr haben die Schweizer nämlich schon vor mehr als 30 Jahren in ihre Verfassung geschrieben: 1992 hatte das Volk für die beiden Basistunnel gestimmt – und sechs Jahre später für die Einführung einer „Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe“ (LSVA). Seit 2001 finanzieren alle Lkw über 3,5 Tonnen den Ausbau der Eisenbahn mit, und zwar mit etwa 2,7 Rappen pro Tonnenkilometer. „Die LSVA wurde von allen akzeptiert und nicht mehr hintertrieben, wie bei Mautprojekten in unseren Nachbarländern. Deswegen ist die LSVA auch eine Meisterleistung unserer direkten Demokratie“, sagt der frühere Schweizer Bundesrat Moritz Leuenberger.

Tägliche „Bahnpolitik“

Wie in Deutschland, so gab es auch in der Schweiz eine Bahnreform. Die SBB sind seit mehr als zwei Jahrzehnten zwar als Aktiengesellschaft strukturiert – ein Börsengang aber, wie die DB ihn unter Hartmut Mehdorn anstrebte, kam nie in Betracht. Im kollektiven Bewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer ist die Eisenbahn historisch tief verankert als Bindeglied zwischen den Regionen und ihren vier Sprachen, und das nicht zuletzt angesichts der anspruchsvollen Topografie. Die Eidgenossen schimpfen selten über die SBB und die übrigen Bahnen, sondern betrachten sie mit nationalem Stolz.

„Der Bahnausbau in der Schweiz ist außerdem ein politischer Prozess“, sagte der Direktor des Bundesamts für Verkehr, Peter Füglistaler, der „Süddeutschen Zeitung“. „Das Parlament ist permanent involviert. Deshalb haben wir als Amt auch eine stärkere Rolle, weil wir diese politischen Entscheide vorbereiten und später zusammen mit den Bahnen umsetzen müssen.“

Dabei sind die Schweizer keineswegs Automuffel. Aber weil im Land keine Autos gebaut werden, dürften Entscheidungen für Investitionen in die Schiene und damit gegen die Straße leichter fallen als in Deutschland. Gerechtfertigt werden sie auch durch die hohe und immer noch steigende Nachfrage: Eidgenossen reisen durchschnittlich mehr als 2200 Kilometer pro Jahr im Zug, doppelt so viel wie hierzulande.

Einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung haben die SBB als Stammkunden gewonnen: Von den 8,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern haben 2,5 Millionen ein „Halbtaxabo“, ähnlich der Bahncard 50. Kein Wunder: Das Tarifsystem ist einfach, Züge fahren häufig im 30-Minuten-Takt, manchmal öfter, die Vernetzung mit den Postbuslinien ist exzellent.

Allerdings verweist man auch im Berner Bundesamt für Verkehr darauf, dass Vergleiche zwischen der Schweizer und der deutschen Eisenbahn hinken. So ist das DB-Streckennetz mit 33 400 Kilometern sechsmal so groß wie das der Schweiz. Entsprechend höher ist die Komplexität. Während zwischen Basel und Genf, der nördlichsten und südlichsten Großstadt der Schweiz, nur 260 Bahnkilometer liegen, sind es zwischen Hamburg und München gut 800. DB-Manager haben mal das Bonmot geprägt, dass die Schweiz eigentlich nicht mehr als ein sehr großes S-Bahn-Netz betreibe. Aber auch das muss man erst mal beherrschen.

Die Schweiz investiert pro Bürger etwa dreimal so viel Steuergeld in die Bahn wie Deutschland.

Olaf Krohn ist Germanist und Geograf. Er lebt in Kiel und arbeitet als freier Journalist mit den Schwerpunkten Reise und Verkehr.

Olaf Krohn ist Germanist und Geograf. Er lebt in Kiel und arbeitet als freier Journalist mit den Schwerpunkten Reise und Verkehr.

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