VERTEIDIGUNG DES WESTENS
Russland und China bedrohen die territoriale Integrität des Westens sowie seine Lebens- und Werteordnung. Wenn Europa sich glaubhaft selbst verteidigen will, dann braucht es kalkulierbar steigende Militärausgaben und politische Berechenbarkeit.
Text: Burkhard Meißner
VERTEIDIGUNG DES WESTENS
Russland und China bedrohen die territoriale Integrität des Westens sowie seine Lebens- und Werteordnung. Wenn Europa sich glaubhaft selbst verteidigen will, dann braucht es kalkulierbar steigende Militärausgaben und politische Berechenbarkeit.
Text: Burkhard Meißner
Der totalitäre Charakter der Einparteiendiktatur China sollte seit dem Tian’anmen-Massaker 1989, dem Schicksal Hongkongs nach 1997 und der gewaltsamen Sinisierung der Uiguren seit 2014 nur zu deutlich sein. Russlands Verwandlung in eine expansive und totalitäre Diktatur spätestens seit Beginn der dritten Präsidentschaft Putins ab 2012 ist leider erst durch den Angriff auf die Ukraine nach dem 24. Februar 2022 ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Russland ist ein revisionistischer Staat mit hoch entwickeltem Unterdrückungsapparat, absoluter Kontrolle über die öffentliche Meinung sowie einer durch die russische Orthodoxie geprägten Ideologie. Im Kern besteht diese in einem großrussischen Nationalismus, der umfangreiche Anleihen beim Panslawismus und dem exilrussischen Faschismus des 19. und 20. Jahrhunderts macht. Auch nach 1990 haben die Angriffe und Kriege Russlands in den Regionen und Ländern nie aufgehört, die es als seinen Einflussbereich sieht: Georgien/Südossetien (1991/92), Moldawien/Transnistrien (1992), Georgien/Abchasien (1992/93), Tschetschenien (1994–1996 und 1999–2009), Georgien (2008), Syrien (ab 2015), Kasachstan (2022), Mali (ab 2022) und Ukraine (2014 und ab 2022).
In den meisten dieser Konflikte gab es menschenverachtend große Opfer der strategisch, operativ und taktisch überforderten russischen Streitkräfte. Und meist standen an ihrem Ende russische Stationierungen, Dominanz oder gar Annexion. Im Inneren bildeten sich im imperialen Russland eine militarisierte Untertanengesellschaft und eine nationalistische, antiwestliche Staatsideologie. Der russländische Staat wird für Jahrzehnte die Konfrontation mit Westeuropa suchen, nicht den diplomatischen Ausgleich. Er hat den Anspruch auf ukrainisches Territorium in seine Rechtsordnung geschrieben und wird daher zu Frieden und Verzicht wohl kaum anders als durch Zwang gebracht werden können. Wie China bekämpft auch Russland die vermeintlich durch den „Westen“ dominierte Ordnung der Welt, sucht eine neue an deren Stelle zu setzen, stört und untergräbt gezielt die Beziehungen westlicher Staaten zu den Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens und propagiert sein eigenes totalitäres Modell als Gegenbild zu den Demokratien des Westens.
Europa muss künftig viel mehr als nur seine Integrität verteidigen
Was Europa und dem Westen von Russland und China seit etwa anderthalb Jahrzehnten droht, sind nicht nur territoriale Ansprüche und Konflikte, sondern Auseinandersetzungen um Lebensformen und Lebensordnungen. Europa steht daher vor einer Phase der Verteidigung nicht nur seiner territorialen Integrität, sondern auch seiner Lebens- und Werteordnung. Und dies in einer Zeit, in der populär gewordene Konstruktivismen und Relativismen, fraktionierte und fraktionierende neue Kommunikationskanäle, krasse Interessen- und Überzeugungsgegensätze sowie eine sich ideologiekritisch gebende Propaganda vonseiten der Extreme diese Lebensordnung auch von innen gefährden. Dagegen wird sich Europa zu verteidigen haben. Das Wichtigste, was in dieser Lage gelernt werden muss, dürfte ein vertieftes Verständnis für Sprachen, Kulturen, Religionen, Lebensformen und Verhaltensweisen sein – fremder wie eigener. Europa sollte sein Interesse für die Kulturen der Welt intensivieren – also Vokabeln, Grammatiken, Literaturen, Diskurse und Weltbilder studieren.
Der Westen wird sich gegen das aufrüstende China vorbereiten müssen – und eine Abschreckung gegen Russland aufbauen, das sich vom Ukraine-Krieg wieder erholen wird. Dafür wird der Westen voraussichtlich viel Kapital aufbringen müssen. Die ostmitteleuropäischen Länder tendieren bereits zu Militäretats von mindestens 4 Prozent des BIP, während Deutschland nie das vor 20 Jahren zugesagte Niveau von 2 Prozent erreicht hat. Europa dürfte vor einer erheblichen Aufrüstung und vor Auseinandersetzungen zwischen Verteidigung und Umverteilung stehen.
Mit Geld allein wird es aber nicht getan sein. Eine europäische Verteidigung setzt voraus, dass Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten kompatibel, klar, vergleichbar und effizient werden. Das Beispiel der entscheidungshemmenden europäischen Ausschreibungsregeln sollte warnen: Europa steht vor der Wahl, seine Verteidigung auszubauen oder seine Verteidigungsbürokratie. Insbesondere der Normen-, Vorschriften- und Postenhaushalt der überbürokratisierten Bundeswehr sollte bereinigt werden; diese hat so viele Generäle/Admiräle wie zur Zeit des Kalten Krieges, aber nur etwas mehr als ein Drittel der damaligen Truppenstärke. Seine Großbehörden für Liegenschaften, Beschaffung und Personal, aber auch das Verteidigungsministerium selbst bedürfen einer Verschlankung bzw. Dezentralisierung.
Neun Aufgaben für
Europa und Deutschland
Deutschland sollte in der Lage sein, mehr als bisher für Kohärenz in der EU und der NATO zu sorgen, insbesondere auch im Blick auf die Rolle der Türkei.
Europa, insbesondere Deutschland, sollte künftig weniger für Konsum und soziale Transfers aufwenden und mehr für Investition und Sicherheit.
Darüber hinaus sollte Westeuropa künftig den Sicherheits- und Freiheitserwartungen der osteuropäischen NATO-Staaten mehr Gewicht zukommen lassen als in der Vergangenheit.
Die Bundeswehr besitzt derzeit den Charakter einer Bundesbehörde. Sie bedarf einer Reform, die aus dieser Behörde eine richtige Streitkraft macht. Reformbedürftig sind vor allem Personalbildung und Elitenauswahl. In Einzelfragen dürfte mehr Entscheidungseffizienz von dezentralen Auswahlentscheidungen und Märkten zu erwarten sein, in Fragen technischer Großentwicklungen von einer Intensivierung der gesamteuropäischen Kooperation. Erhebliche Ausbaumöglichkeiten bestehen etwa bei der EU-Verteidigungsinitiative PESCO. Im Lichte des Kriegs in der Ukraine sollte in Größenordnungen geplant werden, wie sie zur Zeit des Kalten Krieges üblich waren.
Europa sollte konventionell aufrüsten und die Streitkräfte dafür schnell mit dem ausstatten, was ihnen bereits seit Langem zugesagt war (Verteidigungsetat und Zwei-Prozent-Ziel gemessen am BIP, Munitionsbevorratung, NATO-Kontingente). Sie müssen aber auch strukturell für die Verteidigung des Bündnisses eingerichtet werden – mit größeren Heeren, umfangreicherer Artillerie, Luftabwehrfähigkeiten, modernisierten See- und Luftstreitkräften.
Auf einem großen europäischen Rüstungsmarkt werden Einsparungen durch Massenbeschaffung zu erwarten sein. Europa und insbesondere Deutschland werden Verteidigung und Rüstung aber nur gelingen, wenn die Verteidigungsausgaben stetig und kalkulierbar wachsen und wenn sich Europa auf einheitliche Regeln für den Export seiner Rüstungsprodukte einigt – wenn also Berechenbarkeit an die Stelle unkalkulierbarer Einzelentscheidungen tritt. Ansonsten werden Rüstungsinvestitionen und übernationale Rüstungszusammenarbeit nur Stückwerk bleiben.
Die europäische Verteidigung sollte Gesamtverteidigung sein, die Infrastrukturen, Institutionen und Werte von Staat und Gesellschaft umfassend zu schützen sucht, diese durch die oft beschworene Resilienz prägt und den Zivilschutz, der über drei Jahrzehnte vernachlässigt wurde, europaweit neu aufsetzt. Eine allgemeine Ausbildungs- und Dienstpflicht wäre auch in dieser Hinsicht hilfreich.
Zu Europas Verteidigung wird es gehören, die von den Russen zerstörte Ukraine wiederaufzubauen; das dafür nötige Kapital wird nicht aus Russland und nicht allein aus den USA kommen können, sondern in hohem Maße auch aus den mitteleuropäischen Volkswirtschaften mit vergleichsweise geringen Verschuldungen von Staat und Unternehmen.
Alle europäischen
Nationen, vor allem aber diejenigen Mitteleuropas und des Westens, werden neu entwickeln müssen, was bis etwa 1990 Einstellung ihrer Mehrheiten und Eliten war: den Willen und die Bereitschaft zur Selbstverteidigung.
Zweifel an Deutschlands Fähigkeit, für die Partner im Osten einzustehen
Der neue Kalte Krieg, der für absehbare Zeit zugleich ein heißer Krieg in der Ukraine und an den anderen Rändern der alten Sowjetunion bleiben wird, spielt sich nicht, wie der erste, in Mitteleuropa ab, sondern in Ost- bzw. Ostmitteleuropa. Nicht ein geteiltes Deutschland steht im territorialen Zentrum dieses Konflikts, sondern die Ukraine, der Kaukasus-Raum, Zentralasien und der östliche Ostsee-Raum. Deutschlands Aufgabe ist es dabei, zur Verteidigung der östlichen NATO-Partner einen maßgeblichen Beitrag zu leisten. An diesem hat es Deutschland in den letzten 20 Jahren mangeln lassen. So gibt es heute verständliche Zweifel am Willen und der Fähigkeit Deutschlands, für seine Bündnispartner im Osten Europas einzustehen.
Deutschland sollte fähig werden, als Stütze dieser Partner zu fungieren: logistisch als Drehscheibe für Hilfe und Nachschub, vor allem aber zu ihrer militärischen, wirtschaftlichen und poli-tischen Stützung und Verteidigung. Nur durch erhöhte Eigenleistung wird der Westen in der Lage sein, die strategischen Kosten mehrfacher Konfrontationen in Europa und in Ostasien zu bewältigen.
Als Land, das vertraglich auf Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, wird Deutschland für nukleare Abschreckung auf andere Mächte angewiesen bleiben: In erster Linie auf die USA und zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit in Europa auch auf die französische „Force de dissuasion nucléaire“. Umso mehr sollte sich Deutschland aber selbst um eine glaubwürdige konventionelle Abschreckung bemühen – mit schlagkräftigen und geeigneten Streitkräften. Es wird nicht gehen, den Partnern diese Last aufzuerlegen. Gewicht und Ansehen eines Landes, das laut jüngsten Umfragen nur 5 bis 10 Prozent seiner Bürger im Falle eines Angriffs auch zu verteidigen bereit wären, dürften nicht hoch sein. Neben der Fähigkeit sollte sich auch die Bereitschaft Deutschlands zur Verteidigung erhöhen. Im Zentrum der deutschen Außenpolitik aber sollte die Kohärenz von EU und NATO stehen; eine moralisch, möglicherweise gar „feministisch“ motivierte Politik dürfte, wie die meisten „-ismen“, eine gewisse Verengung darstellen. Eine als „multilateral“ annoncierte Außenpolitik sollte künftig nicht gegen die Interessen der Verbündeten betrieben werden, auch nicht im Feld der Energiepolitik.
NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bietet konsequente Friedensperspektive
Verteidigungsmesse in Paris: Geld allein ist nicht das Problem. Die Rüstungsunternehmen brauchen Zuverlässigkeit und Kontinuität.
Der Ausgang des Angriffskrieges der Russen gegen die Ukraine ist offen und kontingent. Dennoch kann man beurteilen, wie einige der Möglichkeiten wohl von den Beteiligten bewertet oder akzeptiert werden dürften. Unter diesen dürfte eine „Status-quo-ante-Lösung“ – mit zusätzlichen ukrainischen Gebietsverlusten oder als Rückkehr zur Lage vor dem
24. Februar 2022 – wohl die nach einem russischen Sieg zweitschlechteste Entwicklung darstellen: ein „eingefrorener“ Krieg, gerade unterhalb der Schwelle westlicher Medienaufmerksamkeit gehalten.
Man wird von der Ukraine nach mehrfachem Bruch internationaler Abkommen durch Russland kaum Vertrauen in solche Zusicherungen erwarten können. Mit weniger als ausdrücklichen Beistandsgarantien aller maßgeblichen NATO-Staaten wird weder eine Befriedung der Ukraine noch eine Abschreckung Russlands von künftigen Angriffen möglich sein. Jedoch bestünde eine konsequentere Friedensperspektive weniger in NATO-Garantien als in einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO. Auch ein großes und wichtiges Land hatte die NATO seinerzeit innerhalb eines Territorial- und Systemkonflikts mit der östlichen Supermacht aufgenommen und so mit dazu beigetragen, den Kalten Krieg zu beenden: die später wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gibt die Studie „#EDINA - European Defense In A New Age“ heraus. 16 Expertinnen und Experten konkretisieren die größten Herausforderungen für Europa.
freiheit.org/edina
Burkhard Meißner ist Vorstand des German Institute for Defence and Strategic Studies GIDS. Der Historiker lehrt an der Helmut-Schmidt-Universität und ist Oberst der Reserve.
Burkhard Meißner ist Vorstand des German Institute for Defence and Strategic Studies GIDS. Der Historiker lehrt an der Helmut-Schmidt-Universität und ist Oberst der Reserve.
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