WIRTSCHAFT SPEZIAL
Das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) geht nunmehr im Europäischen Parlament in die Endrunde. Es soll die Grundrechte online schützen. Ein Gespräch mit Claire Pershan vom EU DisinfoLab über den Stand der Dinge und die Chancen, mit der neuen Regulierung die Desinformation im Netz zu bekämpfen.
INTERVIEW: ANN-CATHRIN RIEDEL
WIRTSCHAFT SPEZIAL
Das Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act) geht nunmehr im Europäischen Parlament in die Endrunde. Es soll die Grundrechte online schützen. Ein Gespräch mit Claire Pershan vom EU DisinfoLab über den Stand der Dinge und die Chancen, mit der neuen Regulierung die Desinformation im Netz zu bekämpfen.
INTERVIEW: ANN-CATHRIN RIEDEL
Ann-Cathrin Riedel ist Themenmanagerin für „Digitalisierung & Innovation“ im Fachbereich Internationales bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Claire Pershan, wo stehen wir derzeit in der Diskussion um den Digital Services Act?
Sie kommt jetzt immer mehr in Fahrt. Der DSA soll dazu beitragen, die Nutzer vor illegalen Waren, Inhalten und Dienstleistungen zu bewahren und die Grundrechte online zu schützen. Er modernisiert die E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr 2000 und versucht, die regulatorische Aufsicht zu harmonisieren und Sorgfaltspflichten zu schaffen. Er fördert die Rechenschaftspflicht für digitale Dienstleistungen. Dazu gehören die großen Social-Media-Plattformen, aber auch verschiedene Intermediäre wie Cloud-Dienste oder Marktplätze. Wir vom EU Disinfo Lab – und viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft – beschäftigen uns vor allem mit den größten Online-Plattformen. Aber diese sind nicht das ganze Ziel des DSA. Er soll ein globaler Goldstandard für die Regulierung von Plattformen werden, so wie zuvor die EU-Datenschutz-Grundverordnung. Er dürfte eine Art „Brüssel-Effekt“ haben und Dienste und Nutzer auch außerhalb der EU beeinflussen, sodass die Regulierung durch andere Länder auf anderen Kontinenten mit betroffen sein wird. Deshalb ist es so wichtig, dies richtig hinzubekommen.
Wie wird sich der DSA auf die Desinformation auswirken?
Heute kündigen Plattformen regelmäßig ihre Bemühungen an, Desinformationen zu entfernen, und veröffentlichen neue Richtlinien. Aber von außen können wir die Wirksamkeit nicht beurteilen. In der Zwischenzeit ist die EU mit Selbstregulierung gegen Desinformation vorgegangen, mit freiwilligen Verpflichtungen, Roadmap-Strategien und Projekten – aber nichts davon hatte wirklich Biss. Der DSA ist eine Chance, wirkliche Transparenz und Rechenschaftspflicht zu erreichen. Das bedeutet, dass man genau weiß, warum Plattformen ihre Maßnahmen ergreifen und wie wirksam diese sind. Der Verhaltenskodex, eine Selbstregulierung, wird nun aktualisiert und in den DSA integriert. Aber wir konzentrieren uns darauf sicherzustellen, dass die Regulierung als solche unsere Bedenken aufgreift und auch gegen andere schwerwiegende Verletzungen der Grundrechte Schutzwirkung entfaltet.
Die neue Bundesregierung will sicherstellen, dass der DSA die Kommunikationsfreiheiten schützt, die Rechte der Nutzer stärkt und Forschern Zugang zu mehr Daten verschafft. Wird er dies leisten?
Auf jeden Fall. Eines der Hauptziele ist es, Transparenz zu gewährleisten. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der DSA die tiefen Informationsasymmetrien ausgleicht, die zwischen den Diensten selbst und allen, die sie nutzen, bestehen. Ein Großteil der digitalen Desinformation bleibt aufgrund dieser Asymmetrien unerforscht und unverstanden. Derzeit sind die von Plattformen bereitgestellten Daten entweder ad hoc, ungenau oder für Außenstehende unverständlich. Wir können nicht darauf warten, dass ein Whistleblower dergleichen aufdeckt. Es ist wichtig, dass der DSA hier eingreift.
Wie löst der DSA diese Aufgabe?
Artikel 31 sieht Mechanismen vor, die sicherstellen, dass Forscher Zugang zu Plattformdaten haben. Allerdings ist er zu eng gefasst. Er sollte sich nicht nur an Forscher richten, die an akademischen Einrichtungen tätig sind, sondern auch andere Arten von Rechercheuren einschließen, die im öffentlichen Interesse arbeiten, mit entsprechenden Überprüfungen und Schutzmaßnahmen – zum Beispiel Journalisten und Organisationen der Zivilgesellschaft.
Was tut der DSA sonst noch, um die Grundrechte zu gewährleisten?
Artikel 17 bezieht sich auf die Rechenschaftspflicht mit Blick auf die Willkür in den Entscheidungen der Plattformen. Der DSA sieht ein internes System zur Bearbeitung von Beschwerden vor. Dieses ermöglicht es Personen oder Einrichtungen, Beschwerden einzureichen. Im Moment ist Artikel 17 jedoch so formuliert, dass diese Kanäle nur zur Verfügung stehen, wenn Inhalte zu Unrecht vom Netz genommen werden. Sie müssen auch zur Verfügung stehen, wenn illegale oder verletzende Inhalte nicht entfernt werden.
Der DSA erwähnt auch vertrauenswürdige Hinweisgeber, „Trusted Flaggers“. Wer sind sie, und was können oder sollten sie tun, insbesondere wenn es um Desinformation geht?
Es wird einen privilegierten Kanal geben, der es Einrichtungen mit besonderem Fachwissen und besonderer Kompetenz ermöglicht, illegale Inhalte an die Plattformen zu melden, und man wird auf sie vorrangig reagieren. Derzeit besteht im DSA ein Spannungsverhältnis zwischen illegalen Inhalten und Inhalten, die gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen. Der DSA erstreckt sich auf beides. Die vertrauenswürdigen Hinweisgeber hingegen reagieren allein auf illegale Inhalte. Das sind im Allgemeinen terroristische Inhalte, Materialien zum sexuellen Missbrauch von Kindern oder auch urheberrechtlich geschützte Inhalte. Desinformation jedoch ist nicht immer illegal, sie kann in einigen Fällen auch legal sein. Nach dem derzeitigen Wortlaut des DSA können „Trusted Flaggers“ daher manchmal dann leider doch nicht gegen Desinformation vorgehen. Ihre privilegierte Rolle könnte zudem missbraucht werden, zum Beispiel wenn sie von einem Koordinator für digitale Dienste in einem Land eingesetzt werden, das sich nicht an die Rechtsstaatlichkeit hält. Solche „Trusted Flaggers“ könnten legitime Äußerungen zensieren – und das ist nicht die Absicht des DSA.
Claire Pershan ist Policy Co-ordinator bei Eu DisinfoLab, einer unabhängigen gemeinnützigen Organisation in Brüssel, die sich auf die Bekämpfung von Desinformationskampagnen konzentriert.