THEMA SPEZIAL

Das einzig gute Imperium der Geschichte

Die neue Bundesregierung ist europapolitisch ehrgeizig. Das ist erfreulich. Denn die Zusammenarbeit in der EU als Zusammenschluss gleichberechtigter Länder unter gemeinsamen Rechtsgesetzen dient einem so wichtigen wie einzigartigen Ziel: der Sicherung einer wahrhaft menschlichen Ordnung.

TEXT: ALEXANDER GÖRLACH
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA

THEMA SPEZIAL

Das einzig gute Imperium der Geschichte

Die neue Bundesregierung ist europapolitisch ehrgeizig. Das ist erfreulich. Denn die Zusammenarbeit in der EU als Zusammenschluss gleichberechtigter Länder unter gemeinsamen Rechtsgesetzen dient einem so wichtigen wie einzigartigen Ziel: der Sicherung einer wahrhaft menschlichen Ordnung.

TEXT: ALEXANDER GÖRLACH
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA

Im Wahlkampf hatten Europa und außenpolitische Themen insgesamt noch eine untergeordnete Rolle gespielt. Die Coronapandemie, das Hochwasser an der Ahr und in Bayern hatten sich in den Vordergrund geschoben. Dabei ist allen politischen Akteuren klar, dass die Zukunft in Europa liegt. Und so haben sich die Ampelkoalitionäre jetzt zu mehr Europa bekannt: SPD, Grüne und Freie Demokraten möchten die Union weiterentwickeln. Die drei Regierungsparteien wollen auf nichts Geringeres zusteuern als auf einen „föderalen europäischen Bundesstaat“. Auch wenn nicht ganz klar ist, wie dieses ambitionierte Ziel erreicht werden soll: Dieser proeuropäische Kurs ist erfreulich.

In den Merkel-Jahren hatte der politische Wille gefehlt, große Würfe zur Vertiefung der Integration des politischen Projekts zu wagen. Nationale Interessen rückten in den Vordergrund, befeuert von einem Erstarken der neuen Rechten in vielen Mitgliedsländern des Verbundes. Darüber hinaus gaben die Euro-Krise, die die Jahre nach 2008 bestimmte, sowie die Flüchtlingskrise, die den Kontinent nach 2015 in Atem hielt, den politisch Handelnden genug Herausforderungen im Hier und Jetzt, sodass das Schmieden von Zukunftsplänen auf unbestimmte Zeit verschoben werden musste. Dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron inmitten der vielen Krisen 2017 die Geduld und den langen Atem aufbrachte, sich trotzdem Gedanken über den Fortgang der EU zu Papier und zu Gehör zu bringen (Sorbonne-Rede), wurde in Berlin mit Kopfschütteln quittiert. Im Élysée-Palast wartete man vergeblich darauf, dass die Regierung Merkel den ihr zugespielten Ball aufnehmen würde. Genutzt hat das deutsche Zögern vor allem den Populisten am rechten Rand.

Doch nun besteht die Chance für einen neuen Anfang, würde man meinen, wobei die Krisen nicht kleiner geworden sind und jeder Versuch eines neuen Wurfs Gefahr läuft, von der Relevanz aktueller Ereignisse verschluckt zu werden. Die größte Herausforderung für Europa ist nach wie vor der erstarkende Autoritarismus, sowohl innerhalb der Mitgliedsländer der Union, aber mit noch größerer Wucht von außerhalb: Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko beschwört gemeinsam mit dem Herrscher im Kreml eine internationale Krise herauf, die erstmals vollauf zeigt, zu welchen hässlichen Dingen Autokraten, ohne mit der Wimper zu zucken, fähig sind. Wladimir Putin sehnt sich nach dem Russischen Reich zurück. In der Türkei will Recep Tayyip Erdoğan das Osmanische Reich wiederbeleben. In China knüpft Xi Jinping an die alten dynastischen Traditionen an und verklärt sich zum „Sohn des Himmels“, der in seiner Deutung des Konfuzianismus ein mit einem „Mandat des Himmels“ ausgestatteter, vom Lauf des Kosmos bestimmter Alleinherrscher sei.

Die drei Regierungsparteien wollen auf nichts Geringeres zusteuern als auf einen „föderalen europäischen Bundesstaat.

Die drei Regierungsparteien wollen auf nichts Geringeres zusteuern als auf einen „föderalen europäischen Bundesstaat.

Innerhalb Europas träumen sowohl Victor Orbán in Ungarn als auch Mateusz Morawiecki in Polen von einer klerikal-faschistischen Nation. Beide begreifen ihre Länder als katholische Bastionen, in denen Muslime, Homo- und Transsexuelle nichts zu suchen haben. Sie wollen ihre Länder von solchen Menschen „säubern“. Welch grauenhafte Wiederkehr totalitären Gedankenguts mitten im freien Europa! Die Reiche der Vergangenheit, von Autokraten allenthalben verklärt, können in der Welt von heute, die auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit fußt, keinen Platz mehr haben. Ihr Prinzip war die Ausbeutung der unterworfenen Völker. Gleichzeitig haben etliche von ihnen einen gelingenden Weg des Zusammenlebens verschiedener Ethnien und Religionen gefunden, von denen die Orbáns nichts mehr wissen wollen.

Weil das so ist, darf Europa nicht damit fortfahren, in der ungezählten nächsten Auflage fruchtlos über die Frage zu diskutieren, ob man nun ein Bundesstaat, eine Föderation oder ein Verband aus Vaterländern sei – und dabei verkennen, dass eine derart technisierte Debatte den wahren Kern Europas nicht beschreibt und dass deshalb auch die Leistungen der Union nicht angemessen gewürdigt werden können. Denn das hätte wieder nur zur Konsequenz, dass am Ende der politische Wille fehlt, das gemeinsame Projekt fortzuschreiben. So verzettelte man sich in Abwehrkämpfen, die eher einen Niedergang hinauszögern, als einen neuen Anlauf zu beschleunigen.

Denken wir doch Europa heute einmal als das erste und bislang einzig gute Imperium der Geschichte: Es ist ein Zusammenschluss gleichberechtigter Länder, die sich, wie Immanuel Kant sagen würde, unter gemeinsamen Rechtsgesetzen zusammengefunden haben. Diese partnerschaftliche Vereinigung auf der Grundlage des Rechts ist einzigartig. Aufgrund der Gegebenheit, dass die Länder der EU auch geographisch zusammenliegen, entsteht tatsächlich auch ein gemeinsames Territorium, das nicht durch Waffen, sondern durch die Herrschaft des Rechts zusammengehalten wird. Dabei bleiben alle Mitglieder sie selbst: Die Bevölkerungen pflegen ihre religiösen und kulturellen Traditionen, sie sprechen weiterhin ihre Sprachen und Dialekte. Und sie wenden das gemeinsame Recht jeweils innerhalb ihrer eigenen Rechtstradition an, über den Weg der nationalen Parlamente.

Dieser Ansatz hat aus Europa in der Tat ein Imperium gemacht, das anders als die vielen, die einst in der Alten Welt bestanden, nicht wieder in alte Muster von Krieg und Gewalt gefallen ist. Dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil zeitgleich zur rechtlichen Harmonisierung die Rolle schrumpfte, die Ethnie und Religion traditionell in europäischen Staaten spielten. Das alte Europa, das den Orbáns Freudentränen in die Augen treibt, war zutiefst tribalistisch, in Stämme zerfallen, die sich in wechselseitigen Allianzen bekämpften, welche jederzeit aufgekündigt werden konnten. Auch die gemeinsame Religion, das Christentum, überwand diese Gräben nicht, sondern half, sie zu vertiefen. Die heutige Europäische Union ist daher kein christliches Gebilde, der Kontinent heute in seiner freiheitlichen Form keiner Religion verbunden. Und die allermeisten Europäerinnen und Europäer schätzen heute ihr eigenes Land, ihre Herkunft und Lebensweise, ohne dabei die der Nachbarn für unterlegen zu halten. Nationalismus gibt es in einem Europa, in dem Spanier in Deutschland und Franzosen in Italien leben können, wenn sie das wünschen, irgendwann nicht mehr.

Die große Herausforderung der autokratisch-diktatorischen Länder für die freie, demokratische Welt besteht in ihrer schamlosen Verherrlichung eines Tribalismus, der nach dem Mechanismus „Wir gegen die“ alle anderen herabsetzt, die nicht zur verherrlichten Mehrheit gehören, sie verbaler und physischer Gewalt aussetzt und sie am Ende ihres rechtlichen Schutzes entkleidet. Die Herrschaft des Rechts soll wieder zu einer Herrschaft der Stärkeren werden.

Eine neue, weitere Integration Europas kann daher nicht über einen technisch anmutenden Diskurs darüber gelingen, ob wir einmal Bundesstaat oder Föderation oder das „Europa der Vaterländer“ sein wollen. Europa ist stark, weil es auf den Tribalismus der Vergangenheit eine tragfähige Antwort formuliert und in die Tat umgesetzt hat. Anders als die Reiche, deren Neuauflage uns Xi, Putin, Erdoğan und Orbán versprechen, ist das heutige Imperium ein Friedensreich: Es bringt die pax europanea. Dieser Friede ist nicht vom Himmel gefallen, sondern juristisch erkämpft, verbrieft durch rechtsstaatliche Prinzipien, die auf der Menschenwürde gründen.

Wissenschaftler, die sich mit Gruppenbildungen beschäftigen, haben festgestellt, dass im Menschen schon in frühen Kindheitstagen Muster ausgeprägt werden, welche die eigene Gruppe gegenüber anderen favorisieren. Dies habe etwas mit der Evolution zu tun. Sie sind sich einig, dass die Menschheit nur eine Zukunft hat, wenn sie diese alten Mechanismen der Abgrenzung aushebeln und überwinden kann. Und in der Tat: Ein gemeinsames Recht, gemeinsamer Handel, gemeinsame Ziele, die in Wissenschaft, Philosophie und Staatskunst Ausdruck finden, haben in Europa vermocht, unsere destruktiven archaischen Muster zu brechen.

Die liberale Ordnung Europas heute fußt im Wesentlichen darauf, dass die Völker, die über Jahrhunderte dazu erzogen wurden, anderen zu misstrauen, einander heute vertrauen und zusammenarbeiten wollen. Davon sollten sich die politisch Verantwortlichen in Europa, auch in Deutschland, neu inspirieren lassen. Zwar mag der Wille, Europas Verwaltung zu verbessern und zu digitalisieren, angesichts vieler praktischer Hürden ermüden, die aufgrund der vielen eigenen Vorstellungen und Traditionen bestehen. Aber all diese Verbesserungen werden letztlich unternommen, um ein größeres Ziel zu verwirklichen: eine wahrhaft menschliche Ordnung. Es gilt darum, einen neuen politischen Willen zu fassen, um diese Union des europäischen „Wir“ zu festigen und sie auch anderen Regionen in der Welt als Modell anzubieten zu können.

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs.

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