In Frankreich wie in Deutschland haben Philosophen die Macht der Vernunft und den Wert der Freiheit besungen. Diese gemeinsame Tradition braucht neuen Schwung, um Europa voranzubringen.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
In Frankreich wie in Deutschland haben Philosophen die Macht der Vernunft und den Wert der Freiheit besungen. Diese gemeinsame Tradition braucht neuen Schwung, um Europa voranzubringen.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Wer auf dieser Welt ernsthaft über Wert und Zukunft der Freiheit nachdenkt, kommt ohne das Erbe deutsch-französischen Philosophierens nicht aus. Die besondere Qualität, Dynamik und Tiefe dieser nun mehr als 250 Jahre währenden Wahlverwandtschaft – von Rousseau zu Kant, von Baudelaire zu Benjamin, von Heidegger zu Beauvoir und Sartre – gehört zum Faszinierendsten, was die europäische Geistesgeschichte zu bieten hat.
Noch vor wenigen Jahren inspirierte dieses Erbe den Philosophen Michel Serres gar dazu, eine vollständige Vereinigung beider Länder zu einem politischen Gemeinwesen anzuregen. Unter dem Titel „Vive la Frallemagne!“ erträumte er im „Philosophie-Magazin“ (Juni 2016) eine neue Staatsbildung im Herzen Europas, die das beste beider Länder vor dem Hintergrund eines ebenso tief geteilten wie verankerten Glaubens an die Macht der Vernunft sowie den Wert der Freiheit in sich zu vereinigen wüsste.
In der Tat lässt sich von einem geteilten kulturellen Ethos sprechen, und zwar einem, in dem die Rollen klar verteilt erscheinen: Der deutsche Part betont Vernunft, Regel und Grenze, der französische die Lust, das Spiel und die Notwendigkeit situativer Überschreitung. Beide sind aufeinander verwiesen, um ihre Freiheit gemeinsam zu gewinnen und zu intensivieren.
Der deutsche Part betont Vernunft, Regel und Grenze, der französische die Lust und das Spiel.
So ging auch Michel Foucault vor, als er sich 1984 daransetzte, unter dem Titel „Was ist Aufklärung?“ sein philosophisches Vermächtnis zu verfassen. Wie könnte man sich, so die leitende Frage, den von jeder Generation neu zu gewinnenden Kant’schen „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ künftig vorstellen und ihn ins Werk setzen? Was könnte der „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, heute konkret bedeuten?
Foucault versteht sein philosophisches Erbe – und das Erbe der Moderne schlechthin – in der Spur von Kants freiheitsgewinnender Vernunftkritik und deren liberaler Fortschrittshoffnung. Nunmehr gehe es vor allem um die Beantwortung folgender Frage: „Wie lassen sich das Anwachsen der (technischen) Fähigkeiten und die Intensivierung der Machtbeziehungen entkoppeln?“ Man kann sie erweitern: Wie lassen sich fortlaufende technische Innovation und die damit verbundenen Mobilitätszuwächse von der Dynamik eines dennoch stetig wachsenden, ökologisch zerstörerischen Ressourcenverbrauchs entkoppeln? Wie lässt sich das Wissen um diese Konstellation mit einem progressiven Ethos der Freiheit vereinen?
Anstatt sich darauf eine allzu eindeutige Antwort zuzumuten, wirbt Foucault für ein „Ethos der Grenzhaltung“, wobei sich diese vor allem in einer Analyse und Reflexion der Grenzen fände – und zwar mit dem Ziel ihrer mündigen Überschreitung. Diese Form liberaler Kritik sei das Produkt einer „geduldigen Arbeit, die der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt“. Selten erschien dieses deutsch-französische Ethos wichtiger als heute. „Vive la Frallemagne!“
Wer auf dieser Welt ernsthaft über Wert und Zukunft der Freiheit nachdenkt, kommt ohne das Erbe deutsch-französischen Philosophierens nicht aus. Die besondere Qualität, Dynamik und Tiefe dieser nun mehr als 250 Jahre währenden Wahlverwandtschaft – von Rousseau zu Kant, von Baudelaire zu Benjamin, von Heidegger zu Beauvoir und Sartre – gehört zum Faszinierendsten, was die europäische Geistesgeschichte zu bieten hat.
Noch vor wenigen Jahren inspirierte dieses Erbe den Philosophen Michel Serres gar dazu, eine vollständige Vereinigung beider Länder zu einem politischen Gemeinwesen anzuregen. Unter dem Titel „Vive la Frallemagne!“ erträumte er im „Philosophie-Magazin“ (Juni 2016) eine neue Staatsbildung im Herzen Europas, die das beste beider Länder vor dem Hintergrund eines ebenso tief geteilten wie verankerten Glaubens an die Macht der Vernunft sowie den Wert der Freiheit in sich zu vereinigen wüsste.
In der Tat lässt sich von einem geteilten kulturellen Ethos sprechen, und zwar einem, in dem die Rollen klar verteilt erscheinen: Der deutsche Part betont Vernunft, Regel und Grenze, der französische die Lust, das Spiel und die Notwendigkeit situativer Überschreitung. Beide sind aufeinander verwiesen, um ihre Freiheit gemeinsam zu gewinnen und zu intensivieren.
Der deutsche Part betont Vernunft, Regel und Grenze, der französische die Lust und das Spiel.
So ging auch Michel Foucault vor, als er sich 1984 daransetzte, unter dem Titel „Was ist Aufklärung?“ sein philosophisches Vermächtnis zu verfassen. Wie könnte man sich, so die leitende Frage, den von jeder Generation neu zu gewinnenden Kant’schen „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ künftig vorstellen und ihn ins Werk setzen? Was könnte der „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, heute konkret bedeuten?
Foucault versteht sein philosophisches Erbe – und das Erbe der Moderne schlechthin – in der Spur von Kants freiheitsgewinnender Vernunftkritik und deren liberaler Fortschrittshoffnung. Nunmehr gehe es vor allem um die Beantwortung folgender Frage: „Wie lassen sich das Anwachsen der (technischen) Fähigkeiten und die Intensivierung der Machtbeziehungen entkoppeln?“ Man kann sie erweitern: Wie lassen sich fortlaufende technische Innovation und die damit verbundenen Mobilitätszuwächse von der Dynamik eines dennoch stetig wachsenden, ökologisch zerstörerischen Ressourcenverbrauchs entkoppeln? Wie lässt sich das Wissen um diese Konstellation mit einem progressiven Ethos der Freiheit vereinen?
Anstatt sich darauf eine allzu eindeutige Antwort zuzumuten, wirbt Foucault für ein „Ethos der Grenzhaltung“, wobei sich diese vor allem in einer Analyse und Reflexion der Grenzen fände – und zwar mit dem Ziel ihrer mündigen Überschreitung. Diese Form liberaler Kritik sei das Produkt einer „geduldigen Arbeit, die der Ungeduld der Freiheit Gestalt gibt“. Selten erschien dieses deutsch-französische Ethos wichtiger als heute. „Vive la Frallemagne!“
Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Sein Buch „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis.