Der schlechte Zustand der Freiheit
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Freiheit zumindest sei in Frankreich unter die Räder gekommen, meint der Philosoph Gaspard Koenig. Er wirbt für eine radikale Erneuerung des Liberalismus.
TEXT: GASPARD KOENIG
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Der schlechte Zustand der Freiheit
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Freiheit zumindest sei in Frankreich unter die Räder gekommen, meint der Philosoph Gaspard Koenig. Er wirbt für eine radikale Erneuerung des Liberalismus.
TEXT: GASPARD KOENIG
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Der Liberalismus ist in weiten Teilen eine französische Erfindung. In seiner modernen Bedeutung hat der Philosoph Francois Maine de Biran (1766–1824) den Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt. Im vorangegangenen Jahrhundert hatten die Physiokraten und ihre Nachahmer die Ideen der individuellen Freiheit und der Vertragsfreiheit auf politischer wie auch auf wirtschaftlicher Ebene verbreitet. Die liberalen Reformen, die Jacques Turgot (1727–1781) als Minister von Ludwig XVI. nicht hatte verwirklichen können, setzte dann die Französische Revolution durch. Die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1789 bleibt ein unübertrefflicher Text, der das Eigentumsrecht einführt, die Gewaltenteilung etabliert, das Gesetz klar von jeglicher Moral befreit und diese großartige, rein negative Definition von Freiheit vorschlägt: „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“. Und also sich selbst schaden zu können …
Dieser Liberalismus erkennt nicht nur der öffentlichen Gewalt eine Rolle zu, sondern er erfindet dabei den modernen Staat, indem er ihm die Aufgabe zuweist, das Individuum zu emanzipieren, jenseits der verhassten Zwischenkörper (Kasten, Zünfte, religiöse Orden ...). Der Historiker Pierre Rosanvallon spricht in diesem Zusammenhang von „liberalem Jakobinismus“. Es handelt sich dabei um einen individualistischen, umfassenden, revolutionären Liberalismus, der sich recht deutlich vom angelsächsischen, am Denken des Philosophen Edmund Burke (1729–1797) orientierten, auf Gemeinschaften fußenden und damit auch konservativeren Liberalismus unterscheidet.
Wie lässt sich angesichts dieses Erbes erklären, dass der Liberalismus in Frankreich heute derart missverstanden und verunglimpft wird?
Historisch gesehen bedeutete der Zweite Weltkrieg einen großen Bruch in der politischen Organisation Frankreichs. Wie der amerikanische Historiker Robert Paxton analysiert hat, blieben die Strukturen eines dirigistischen Staates, die das Vichy-Regime eingeführt hat, nach dem Krieg weitgehend erhalten. Aus dieser Zeit stammen die Rückkehr der Berufsverbände, der Beamtenstatus und die Technokratie. In der Nachkriegszeit, als Deutschland den Weg des Ordoliberalismus einschlug, verharrte Frankreich in der Vorstellung eines wundertätigen Staates – Umverteilung links, Interventionismus rechts.
Nach und nach verblasste der Liberalismus akademisch, intellektuell und politisch. Die Einführung der Direktwahl des Präsidenten der Republik nach allgemeinem Wahlrecht im Jahr 1962 war nichts anderes als die institutionelle Übersetzung dieses Verzichts auf die Ideale von 1789.
Der Staat kontrolliert das Leben durch einen unverständlichen Korpus von 400.000 Normen.
Heute hat der Staat alle Macht an sich gerissen. Er kontrolliert die Wirtschaft durch öffentliche Investitionen und mithilfe des Planungskommissariats. Er kontrolliert die Politik, da die Exekutive fast ausschließlich aus der Technokratie hervorgegangen ist und die wenigen Befugnisse des Parlaments im Zuge aufeinanderfolgender Ausnahmezustände beschnitten wurden. Er kontrolliert das Staatsgebiet, indem er den lokalen Gebietskörperschaften ihre letzten autonomen Steuerquellen entzieht. Vor allem aber kontrolliert er das Leben der Bürger durch einen unlesbaren Korpus von mehr als 400 000 Normen. Niemand soll das Gesetz ignorieren, aber niemand kann es mehr verstehen.
Keine politische Partei bekämpft heute diesen Leviathan außer Rand und Band. Die Partei „La République En Marche“, obschon auf Grundlage eines progressiven Versprechens gewählt, hat sich als ebenso autoritär und zentralisierend erwiesen wie ihre Vorgänger. Regierung für Regierung bietet die geringste Nachricht aus der Zeitungsspalte „Vermischtes“ Anlass für ein Gesetz, das geringste Risiko für ein Verbot, die geringste Initiative für ein Verwaltungsformular. Die Gesundheitskrise scheint in unserem gesellschaftlichen Organismus die Antikörper der Freiheit endgültig eliminiert zu haben.
Dieses Phänomen einer übermäßigen Verwaltung ist in Frankreich zwar besonders erdrückend, aber es ist nicht einzigartig. Wie der Anthropologe David Graeber schreibt, betrifft die „Bürokratisierung“ die gesamte westliche Welt. Wie das Römische Reich können wir wahrscheinlich einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte in diesem Zustand des Kniefalls überleben. Aber die ersten „Barbaren“, die an unsere Tür klopfen, von außen oder noch wahrscheinlicher von innen kommend, werden ein politisches Gebäude niederreißen, das jegliche moralische Kraft verloren hat.
Die erste Dringlichkeit für Liberale, die noch an Immanuel Kants (1724–1804) Ideal der individuellen Autonomie glauben, besteht darin, ihr eigenes „Aggiornamento“ durchzuführen, ihre eigene Aktualisierung, so wie auf dem Lippmann-Kolloquium im Paris der späten 1930er-Jahre. Wir müssen den vulgär verzerrten Neoliberalismus der vergangenen Jahre verurteilen, diese Doktrin des Exzesses: Exzess des Konsums, Exzess der Energie, Exzess der Regulierung, Exzess der Information, Exzess des Geldes. Heute zahlen wir den Preis für diese Ausschweifungen.
Denn der Liberalismus zielt nicht nur auf den von Adam Smith erforschten „Wohlstand“ oder den „Markt“, der zur Obsession der Österreichischen Schule geworden ist.
Er darf ihnen das Recht zum Vagabundieren nicht opfern, die Vielfalt der Werte und die Einzigartigkeit der Personen. Der Liberalismus ist ein Humanismus. Diese theoretische Erneuerung muss mit radikalen Vorschlägen für die Politik einhergehen, die mit dem Status quo brechen und die zeitgenössischen Themen anpacken. Um unseren normativen Stahlkäfig zu durchbrechen, braucht es eine Neukodifizierung des Rechts von Grund auf. Um die Armut zu bekämpfen, ein universelles Grundeinkommen. Um der technologischen Entfremdung zu entkommen, ein Eigentumsrecht an persönlichen Daten. Um den Klimawandel zu bekämpfen, eine CO2-Steuer. Um die Bürgerbeteiligung zu stärken, Verfahren der Liquid Democracy ... Alles muss sich ändern!
Der letzte Schritt in dieser Arbeit ist natürlich ein politischer. Die Liberalen haben sich oft mit der akademischen Forschung und der Ideendebatte begnügt, wo sie hervorragend sind; der Einfluss der „Chicago-Boys“ in den Vereinigten Staaten und im Rest der Welt veranschaulicht den Erfolg dieser Strategie im Guten wie im Schlechten. Aber in unserem zersplitterten Universum kann man sich den wirklich politischen Kampf nicht ersparen. Die Liberalen sind dazu bestimmt, in der Minderheit zu bleiben. Macht nichts. Entscheidend ist, dass sie sich in der Wahlarena engagieren und dabei intellektuell strukturiert bleiben. Die 10 bis 15 Prozent der Stimmen, die sie in vielen europäischen Ländern repräsentieren, können ausreichen, um ideologisch schwache Regierungen zu stürzen.
Historisch gesehen bedeutete der Zweite Weltkrieg einen großen Bruch in der politischen Organisation Frankreichs. Wie der amerikanische Historiker Robert Paxton analysiert hat, blieben die Strukturen eines dirigistischen Staates, die das Vichy-Regime eingeführt hat, nach dem Krieg weitgehend erhalten. Aus dieser Zeit stammen die Rückkehr der Berufsverbände, der Beamtenstatus und die Technokratie. In der Nachkriegszeit, als Deutschland den Weg des Ordoliberalismus einschlug, verharrte Frankreich in der Vorstellung eines wundertätigen Staates – Umverteilung links, Interventionismus rechts.
Angesichts der tödlichen Bedrohungen für die liberalen Werte – von der technologischen Überwachung aus Asien bis zur Woke-Zensur aus den Vereinigten Staaten – hat Europa ein Vorbild zu verteidigen. Die Zeit ist gekommen, sich zu engagieren. Liberale aller Länder, vereinigt euch!
Der Liberalismus ist in weiten Teilen eine französische Erfindung. In seiner modernen Bedeutung hat der Philosoph Francois Maine de Biran (1766–1824) den Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführt. Im vorangegangenen Jahrhundert hatten die Physiokraten und ihre Nachahmer die Ideen der individuellen Freiheit und der Vertragsfreiheit auf politischer wie auch auf wirtschaftlicher Ebene verbreitet. Die liberalen Reformen, die Jacques Turgot (1727–1781) als Minister von Ludwig XVI. nicht hatte verwirklichen können, setzte dann die Französische Revolution durch. Die Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1789 bleibt ein unübertrefflicher Text, der das Eigentumsrecht einführt, die Gewaltenteilung etabliert, das Gesetz klar von jeglicher Moral befreit und diese großartige, rein negative Definition von Freiheit vorschlägt: „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“. Und also sich selbst schaden zu können …
Dieser Liberalismus erkennt nicht nur der öffentlichen Gewalt eine Rolle zu, sondern er erfindet dabei den modernen Staat, indem er ihm die Aufgabe zuweist, das Individuum zu emanzipieren, jenseits der verhassten Zwischenkörper (Kasten, Zünfte, religiöse Orden ...). Der Historiker Pierre Rosanvallon spricht in diesem Zusammenhang von „liberalem Jakobinismus“. Es handelt sich dabei um einen individualistischen, umfassenden, revolutionären Liberalismus, der sich recht deutlich vom angelsächsischen, am Denken des Philosophen Edmund Burke (1729–1797) orientierten, auf Gemeinschaften fußenden und damit auch konservativeren Liberalismus unterscheidet.
Wie lässt sich angesichts dieses Erbes erklären, dass der Liberalismus in Frankreich heute derart missverstanden und verunglimpft wird?
Historisch gesehen bedeutete der Zweite Weltkrieg einen großen Bruch in der politischen Organisation Frankreichs. Wie der amerikanische Historiker Robert Paxton analysiert hat, blieben die Strukturen eines dirigistischen Staates, die das Vichy-Regime eingeführt hat, nach dem Krieg weitgehend erhalten. Aus dieser Zeit stammen die Rückkehr der Berufsverbände, der Beamtenstatus und die Technokratie. In der Nachkriegszeit, als Deutschland den Weg des Ordoliberalismus einschlug, verharrte Frankreich in der Vorstellung eines wundertätigen Staates – Umverteilung links, Interventionismus rechts.
Der Staat kontrolliert das Leben durch einen unverständlichen Korpus von 400 000 Normen.
Nach und nach verblasste der Liberalismus akademisch, intellektuell und politisch. Die Einführung der Direktwahl des Präsidenten der Republik nach allgemeinem Wahlrecht im Jahr 1962 war nichts anderes als die institutionelle Übersetzung dieses Verzichts auf die Ideale von 1789.
Heute hat der Staat alle Macht an sich gerissen. Er kontrolliert die Wirtschaft durch öffentliche Investitionen und mithilfe des Planungskommissariats. Er kontrolliert die Politik, da die Exekutive fast ausschließlich aus der Technokratie hervorgegangen ist und die wenigen Befugnisse des Parlaments im Zuge aufeinanderfolgender Ausnahmezustände beschnitten wurden. Er kontrolliert das Staatsgebiet, indem er den lokalen Gebietskörperschaften ihre letzten autonomen Steuerquellen entzieht. Vor allem aber kontrolliert er das Leben der Bürger durch einen unlesbaren Korpus von mehr als 400 000 Normen. Niemand soll das Gesetz ignorieren, aber niemand kann es mehr verstehen.
Keine politische Partei bekämpft heute diesen Leviathan außer Rand und Band. Die Partei „La République En Marche“, obschon auf Grundlage eines progressiven Versprechens gewählt, hat sich als ebenso autoritär und zentralisierend erwiesen wie ihre Vorgänger. Regierung für Regierung bietet die geringste Nachricht aus der Zeitungsspalte „Vermischtes“ Anlass für ein Gesetz, das geringste Risiko für ein Verbot, die geringste Initiative für ein Verwaltungsformular. Die Gesundheitskrise scheint in unserem gesellschaftlichen Organismus die Antikörper der Freiheit endgültig eliminiert zu haben.
Dieses Phänomen einer übermäßigen Verwaltung ist in Frankreich zwar besonders erdrückend, aber es ist nicht einzigartig. Wie der Anthropologe David Graeber schreibt, betrifft die „Bürokratisierung“ die gesamte westliche Welt. Wie das Römische Reich können wir wahrscheinlich einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte in diesem Zustand des Kniefalls überleben. Aber die ersten „Barbaren“, die an unsere Tür klopfen, von außen oder noch wahrscheinlicher von innen kommend, werden ein politisches Gebäude niederreißen, das jegliche moralische Kraft verloren hat.
Die erste Dringlichkeit für Liberale, die noch an Immanuel Kants (1724–1804) Ideal der individuellen Autonomie glauben, besteht darin, ihr eigenes „Aggiornamento“ durchzuführen, ihre eigene Aktualisierung, so wie auf dem Lippmann-Kolloquium im Paris der späten 1930er-Jahre. Wir müssen den vulgär verzerrten Neoliberalismus der vergangenen Jahre verurteilen, diese Doktrin des Exzesses: Exzess des Konsums, Exzess der Energie, Exzess der Regulierung, Exzess der Information, Exzess des Geldes. Heute zahlen wir den Preis für diese Ausschweifungen.
Denn der Liberalismus zielt nicht nur auf den von Adam Smith erforschten „Wohlstand“ oder den „Markt“, der zur Obsession der Österreichischen Schule geworden ist. Er darf ihnen das Recht zum Vagabundieren nicht opfern, die Vielfalt der Werte und die Einzigartigkeit der Personen. Der Liberalismus ist ein Humanismus.
Diese theoretische Erneuerung muss mit radikalen Vorschlägen für die Politik einhergehen, die mit dem Status quo brechen und die zeitgenössischen Themen anpacken. Um unseren normativen Stahlkäfig zu durchbrechen, braucht es eine Neukodifizierung des Rechts von Grund auf. Um die Armut zu bekämpfen, ein universelles Grundeinkommen. Um der technologischen Entfremdung zu entkommen, ein Eigentumsrecht an persönlichen Daten. Um den Klimawandel zu bekämpfen, eine CO2-Steuer. Um die Bürgerbeteiligung zu stärken, Verfahren der Liquid Democracy ... Alles muss sich ändern!
Der letzte Schritt in dieser Arbeit ist natürlich ein politischer. Die Liberalen haben sich oft mit der akademischen Forschung und der Ideendebatte begnügt, wo sie hervorragend sind; der Einfluss der „Chicago-Boys“ in den Vereinigten Staaten und im Rest der Welt veranschaulicht den Erfolg dieser Strategie im Guten wie im Schlechten. Aber in unserem zersplitterten Universum kann man sich den wirklich politischen Kampf nicht ersparen. Die Liberalen sind dazu bestimmt, in der Minderheit zu bleiben. Macht nichts. Entscheidend ist, dass sie sich in der Wahlarena engagieren und dabei intellektuell strukturiert bleiben. Die 10 bis 15 Prozent der Stimmen, die sie in vielen europäischen Ländern repräsentieren, können ausreichen, um ideologisch schwache Regierungen zu stürzen.
Angesichts der tödlichen Bedrohungen für die liberalen Werte – von der technologischen Überwachung aus Asien bis zur Woke-Zensur aus den Vereinigten Staaten – hat Europa ein Vorbild zu verteidigen. Die Zeit ist gekommen, sich zu engagieren. Liberale aller Länder, vereinigt euch!
Der Philosoph Gaspard Koenig ist Schriftsteller und liberaler Aktivist. Er steht der Denkfabrik „Génération Libre“ in Paris vor, die er 2013 gegründet hat. Auf einem Ritt von Bordeaux nach Rom auf den Spuren von Montaigne genoss er 2020 die Freuden des einfachen Lebens. Im Mai 2021 hat er „Simple“ ins Leben gerufen, eine Plattform für Bürokratieabbau und lokale Autonomie.