ÖKOLOGISCHE DEMOKRATIE
Demokratie und Marktwirtschaft haben einen kreativen Wettbewerb entfacht, auf den wir nicht verzichten können. Doch um dem Klimawandel zu begegnen, müssen wir unternehmerische Leistungen danach beurteilen, wie sie der Gesellschaft nutzen.
TEXT: JENS HACKE
ÖKOLOGISCHE DEMOKRATIE
Demokratie und Marktwirtschaft haben einen kreativen Wettbewerb entfacht, auf den wir nicht verzichten können. Doch um dem Klimawandel zu begegnen, müssen wir unternehmerische Leistungen danach beurteilen, wie sie der Gesellschaft nutzen.
TEXT: JENS HACKE
Demokratie braucht den freien Markt, und der freie Markt braucht mündige Bürger. Nur in Demokratien floriert die Ökonomie, und die wirtschaftliche Dynamik hängt von der Innovationskraft einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft ab. Im Dreiklang von Kreativität, Freiheit und Wohlstand erweist sich die Überlegenheit des Westens. Das galt lange als Gesetz. Doch diese Epoche ist vorbei. Vielen Menschen erscheinen die globalen ökonomischen Mechanismen von jeder demokratischen Kontrolle abgekoppelt.
Demokratie und Marktwirtschaft stehen tatsächlich von jeher in einem fragilen Spannungsverhältnis. Um die Balance zwischen beiden zu finden, ist ein fester Wille nötig – und es braucht normative Grundentscheidungen. Das gilt auch jetzt, da wir uns in Richtung einer ökologischen Demokratie auf den Weg machen. Schon immer war es für Liberale und die Sozialdemokratie unerlässlich, jeweils Zugeständnisse zu machen und um Zustimmung zu werben. So akzeptierten die Adepten der liberalen Ökonomie betriebliche Mitbestimmung, Tarifvertragsregelungen, soziale Sicherheitssysteme und generell die bürgerliche Gleichheit; die Sozialdemokraten respektierten privates Eigentum und verzichteten auf Planwirtschaft. Aus dem Willen zum Kompromiss entwickelte sich historisch der Wohlfahrtsstaat – in harten Kämpfen.
Um die Balance zwischen Demokratie und Marktwirtschaft zu finden, braucht es normative Grundentscheidungen. Das gilt auch in einer ökologischen Demokratie.
Um die Balance zwischen Demokratie und Marktwirtschaft zu finden, braucht es normative Grundentscheidungen. Das gilt auch in einer ökologischen Demokratie.
Vor fast hundert Jahren hat der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946) den Liberalen ins Stammbuch geschrieben, dass der Nachtwächterstaat keine Option sei; vielmehr müsse der intelligente Staat infrastrukturell, vorsorgend und lenkend Dinge tun, für die sich sonst niemand verantwortlich fühle. Sein deutscher Kollege, der Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873–1965), prägte die Leitvorstellung vom demokratischen Kapitalismus, der sich dadurch auszeichne, dass auch die Schwachen einer Gesellschaft von ihm profitierten. Die Schaffung gesamtgesellschaftlichen Wohlstands wurde zur Legitimationsformel für einen marktwirtschaftlich organisierten Wohlfahrtsstaat. Was als Einhegung der Arbeiterbewegung begann und nach einer Domestizierung des Kapitalismus aussah, wuchs sich zum Daseinsgrund des Staates aus.
Zugleich kam es in der Gesellschaft zu einer bedrohlichen Verengung aufs Materielle, die in den Boom-Jahren nach 1945 in Form eines nie gekannten Hedonismus und Konsumanspruchs Fuß fasste. Die Hebung des Lebensstandards, die Mobilität, die technologische Revolution – all dies belegte das dynamische Potenzial der Marktwirtschaft und führte gleichzeitig zu einer Inflation der Begehrlichkeiten, die im Rhythmus technischer Neuerungen immer nur kurzfristig befriedigt werden konnten.
Die individuelle Wohlstandsfixierung war mit einem unterkomplexen Freiheitsbegriff verbunden, der es den Menschen ersparte, die gesellschaftlichen Kosten eines unbeschränkten Ressourcenverbrauchs ins Kalkül zu ziehen. Zwar ist seit den Siebzigerjahren bekannt, dass die Industriegesellschaft die fossilen Brennstoffe zum Nachteil für Natur und Leben auf der Erde verheizt. Auch vor den dramatischen Klimafolgen wird seit Jahrzehnten gewarnt. Aber ins Bewusstsein geriet dies selten. Zu abstrakt, zu weit weg schienen die Folgen, zu unklar der Adressat, der Kursänderungen durchsetzen könnte.
Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die Kritik und Krise institutionell inkorporiert und Skepsis nobilitiert.
Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die Kritik und Krise institutionell inkorporiert und Skepsis nobilitiert.
Die Skepsis, ob die Demokratie in der Lage ist, vorausschauend, verantwortlich, über unmittelbar greifbare Interessen hinaus zum Wohl künftiger Generationen zu handeln, ist nicht unbegründet. Und auch die grassierende Schwindsucht der westlichen Demokratien lässt auf den ersten Blick wenig Hoffnung, dass ausgerechnet die schwankenden Stimmungen eines labilen Souveräns die Menschheitsprobleme in den Griff bekommen. Nationalismus, Besitzstandsdenken, Abschottung gegenüber den Krisenregionen der Welt: All dies signalisiert fehlendes Vertrauen zur demokratischen Handlungsfähigkeit.
Doch eine Flucht in den Fatalismus ist fehl am Platz. Denn die Geschichte der Demokratie lässt sich generell als Abfolge von Krisen begreifen. Mehr noch: Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die Kritik und Krise institutionell inkorporiert und Skepsis nobilitiert. Die Demokratie ermutigt zum Nachdenken über Alternativen. Sie ruft die Opposition auf den Plan, die jeweilige Regierungspolitik für verfehlt zu halten, scharf zu kritisieren und Gegenvorschläge zu lancieren. Sie lebt daher nicht zuletzt ganz elementar von Dramatisierungen und Krisenzuschreibungen. Autokratien hingegen dulden keinen Widerspruch. Ihre Herrscher bevorzugen Friedhofsruhe und asymmetrische Mobilisierungen gegen innere und äußere Feinde. Das bringt ihnen Planungssicherheit, erstickt aber den Meinungswettbewerb und macht kreative Lösungen von unvorhersehbaren Problemen unwahrscheinlich.
Wir sollten uns heute an die Potenziale der Demokratie erinnern: an den Traum von der Selbstverbesserung, der zivilgesellschaftlichen Kooperation und der friedlichen Konfliktlösung. Diese genuin demokratischen Möglichkeitsräume bedürfen dringend einer Reaktivierung. Es gibt kein fest installiertes Verfassungsgefüge, innerhalb dessen gesellschaftliche Kräfte und ökonomische Naturgesetze so walten, dass vernünftige Lösungen automatisch entstehen. Aber die Demokratie bleibt ein Generator von starken Willensentscheidungen und gemeinschaftsbasierten Projektionen. Sie hat die Fähigkeit, die Menschen zu begeistern. Erfolgsgarantien gibt es nicht. Gerade dadurch kann die Demokratie Kräfte freisetzen und Veränderungen schaffen – oft in kleinen Schritten, manchmal aber auch in großen.
Zur Demokratie gehört, dass in der Öffentlichkeit die thematische Agenda bestimmt wird. Blickt man auf die Dynamik öffentlicher Debatten, darf man darauf hoffen, dass so immer wieder Handlungsdruck erzeugt wird, manchmal voreilig, bisweilen blickverengend, aber auf lange Sicht doch einigermaßen verlässlich. Das gilt auch für Fragen, mit denen sich kein spezifisches Gruppeninteresse verbindet. Künftig wird ein verschärfter demokratischer Antrieb notwendig sein, um politische Maßnahmen zu erwirken, die unseren Alltag grundlegend verändern müssen. Der IPCC-Klimabericht wird nicht ohne Effekt bleiben können. Die Naturkatastrophen dieser Tage werden dabei einen Bewusstseinswandel befeuern, der auch unser Freiheitsverständnis modifiziert.
Globale Krisenphänomene, wie Klimaveränderungen und Pandemien, führen vor Augen, dass die Bestandsvoraussetzungen unserer Freiheit komplexer als bisher zu denken sind. Die Advokaten eines verengten, ausschließlich auf die eigene Person gemünzten Freiheitsbegriffs dürfte das in Argumentationsnöte bringen. Denn Klima ist eben nicht „Umwelt“, sondern unsere Welt, von der wir abhängen; Pandemien lassen uns den Wert öffentlicher Räume und sozialer Begegnungen neu schätzen. Sie machen gegenseitige Rücksichtnahme zur Pflicht. Freiheit kann nicht bloß darin bestehen, die eigenen Gewinne zu maximieren und dabei auf Kosten anderer Ressourcen zu verbrauchen. Lange für selbstverständlich gehaltene Konsum- und Mobilitätsgewohnheiten verlangen nach sinnvoller Begründung und stehen auf dem Prüfstand.
Auf den kreativen Wettbewerb, den die Marktwirtschaft entfacht, wird man auch in Zukunft nicht verzichten wollen. Aber wir brauchen eine neue ethische Ausrichtung des ökonomischen Handelns. Wir brauchen neue Formen der Anerkennung unternehmerischer Leistungen, die sich nicht allein nach der Akkumulation von Reichtum bemessen, sondern auch nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen. Man darf dabei darauf vertrauen, dass das Ethos der Wissenseliten in Demokratien zu nachhaltigeren Entwicklungen führt als in autoritären Staaten. Auch die China-Enthusiasten, die sich im Westen während der Pandemie nach den zupackenden Entscheidern sehnten, nehmen zur Kenntnis, dass die wirksamen Corona-Impfstoffe eben im Westen entwickelt worden sind: Demokratien bleiben bei aller Umständlichkeit unter Druck lernfähig.
Krisen verlangen nach positiven Gegenbildern. Die Existenzkrise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit, in der die Menschen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft und den Totalitarismus erlebten, stärkte unter klugen Liberalen und Sozialdemokraten das Bestreben, den Schritt von der liberalen zur sozialen Demokratie zu wagen, ohne die Errungenschaften der Ersten aufzugeben. Die alten Leitbegriffe, wie Gerechtigkeit, Lebenschancen, soziale Sicherheit und Partizipation, müssen auch heute auf erweiterte Bezugssysteme angepasst werden. Den Mut zum visionären Denken jedoch sollte man ganz gewiss nicht aufgeben, wenn es nunmehr darum geht, den Weg zu einer modernen ökologischen Demokratie zu beschreiten. Sie wird nicht das Ende der Geschichte sein, aber wenn man den Schritt zu ihr nicht tut, könnte manches Ende schneller kommen.
Jens Hacke ist seit August 2020 Vertretungsprofessor für Vergleichende Politische Kulturforschung an der Universität der Bundeswehr in München. Er befasst sich unter anderem mit Demokratietheorie sowie mit Liberalismus- und Konservatismusforschung. Im Jahr 2021 kam sein Buch „Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Weimar und die Gegenwart“ heraus (Europäische Verlagsanstalt).