WAHLEN IN UNGARN
Die ungarische Opposition hat ihre Kräfte gebündelt und schickt im Frühjahr einen gemeinsamen Kandidaten ins Rennen für das Amt des Ministerpräsidenten: Péter Márki-Zay. Noch fehlt ein gemeinsames Programm. Trotzdem sind die Aussichten nicht schlecht.
TEXT: ANDREA VIRÁG
WAHLEN IN UNGARN
Die ungarische Opposition hat ihre Kräfte gebündelt und schickt im Frühjahr einen gemeinsamen Kandidaten ins Rennen für das Amt des Ministerpräsidenten: Péter Márki-Zay. Noch fehlt ein gemeinsames Programm. Trotzdem sind die Aussichten nicht schlecht.
TEXT: ANDREA VIRÁG
Ungarn steht vor den spannendsten und voraussichtlich knappsten Wahlen in seiner Geschichte seit 2006: vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 2022. Zwar haben die Regierungsparteien ihre Unterstützung in der Wählerschaft weitgehend aufrechterhalten können, trotz verbreiteter Kritik an ihrem Umgang mit der Coronapandemie. Dennoch ist die Opposition zum ersten Mal seit der Machtübernahme durch die rechtspopulistische Fidesz-KDNP 2010 ein realistischer Herausforderer.
Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens hat die Opposition verstanden, dass sie in ihrer Zersplitterung aufgrund der Besonderheiten des Wahlsystems keine Chance hat, zu gewinnen. Deshalb treten die sechs Oppositionsparteien 2022 mit gemeinsamen Einzelkandidaten, einem gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten und einer gemeinsamen Liste an.
Zweitens hatten sie und die ihnen angeschlossenen Nichtregierungsorganisationen großen Erfolg damit, die Entscheidung über die einzelnen Kandidaten und Kandidatinnen – auch für das Amt des Ministerpräsidenten – im September/Oktober 2021 direkt in die Hände der Wählerinnen und Wähler zu legen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren diktierte die Opposition damit monatelang die politische Agenda. Die Fidesz wusste darauf in keiner Weise sinnvoll zu reagieren. Den meisten Meinungsumfragen zufolge hat das Bündnis der Herausforderer derzeit einen leichten Vorsprung vor Fidesz-KDNP. Trotzdem kann es sich jetzt nicht zurücklehnen, die Arbeit beginnt erst. Es muss sich der Fidesz-Wahlkampfmaschinerie stellen, die Oppositionsparteien und -politiker nicht schonen und einen harten Wahlkampf führen wird.
tion für die Opposition geschaffen. Noch einige Monate vor den Vorwahlen schien es undenkbar, dass der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten nicht einer großen Partei bzw. einem Parteienbündnis entstammen würde. Doch stattdessen wurde es der parteiunabhängige Vorsitzende der Bewegung „Ungarn für alle“ (MMM), Péter Márki-Zay, der aus Hódmezővásárhely kommt, der mit 47 000 Einwohnern viertgrößten Stadt in Südungarn. Er amtiert dort derzeit als Bürgermeister.
Obwohl er nun ihr Kandidat ist, lassen sich Márki-Zays Positionen kaum als Quersumme aus den Programmen der hauptsächlich aus sozialdemokratischen, grünen, linken und sozialliberalen Parteien zusammengesetzten Opposition bezeichnen, für die Fragen der sozialen Sicherheit vorrangig sind. Während sie alle dafür werben, das soziale Sicherheitsnetz auszuweiten, den Staat mehr in die Verantwortung zu nehmen und die Reichen stärker zu besteuern, ist Márki-Zay mit Blick auf soziale Versprechungen und öffentliche Ausgaben zurückhaltend. Er will sich mehr auf Marktprozesse verlassen und ist offen für die Zusammenarbeit des Staates mit Privaten, auch und gerade im Gesundheitswesen. Er verfolgt insgesamt einen marktwirtschaftlicheren Ansatz.
Die Fidesz-Wahlkampf-
maschine wird die Opposition nicht schonen.
Ein weiterer Unterschied zwischen dem Bündnis und seinem Kandidaten besteht darin, dass eine beträchtliche Anzahl Oppositionspolitiker mehr oder weniger liberale Ansichten zu sozialen und kulturellen Fragen vertritt (mit Ausnahme der Politiker des rechten Flügels), während Péter Márki-Zay konservativ ist. Er bekennt sich häufig zu seinen religiösen Überzeugungen und geht regelmäßig in die Kirche. Seine Haltung gegenüber LGBTQ-Gruppen ist traditionell geprägt und bestenfalls uneindeutig. Einerseits greift er die Fidesz-Partei immer wieder auch deshalb an, weil sie die meisten schwulen Politiker in ihren Reihen hat, andererseits hat er sich für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen.
Größere Übereinstimmung zwischen den sechs Oppositionsparteien und Márki-Zay gibt es in den außenpolitischen Vorstellungen. Auch er setzt sich für eine starke Einbindung Ungarns in den Westen ein. Wie die Bündnisparteien will auch er Orbáns Öffnung nach Osten zurückdrehen und dessen viel kritisierten „Freiheitskampf“ gegen Brüssel beenden. Auch er sieht die EU und die westliche Welt als Ungarns wichtigste Verbündete für die Zukunft. Die Oppositionsparteien sind sich in der Frage des Euro nicht ganz einig, wohingegen Márki-Zay zugesagt hat, im Fall seiner Wahl zum Ministerpräsidenten die ersten Schritte zu unternehmen, um Ungarn auf den Weg zum Beitritt zur Eurozone zu bringen.
Wenige Monate vor den Wahlen hat die Opposition mithin zwar einen Kandidaten, aber sie ist in keiner einfachen Lage. Sie muss sich neu organisieren. Péter Márki-Zay und seine Bewegung, die mitunter die Oppositionsparteien von außen aktiv kritisieren, müssen in das System und die Entscheidungsstruktur integriert werden, welche die sechs Parteien vor langer Zeit geschaffen haben. Und es bedarf eines gemeinsamen Programms, auch wenn die Beteiligten nicht dieselbe Ideologie teilen. Um Viktor Orbán zu besiegen, muss die Opposition im Frühjahr 2022 zudem eine relativ breite Koalition von Wählerinnen und Wählern ansprechen.
Das Bündnis muss zentristische, auch eher rechtsgerichtete, konservative Wähler für sich gewinnen, aber es darf auch die progressive, linke Wählerschaft nicht verprellen. Es muss die noch unentschlossenen Wähler überzeugen, die in den vergangenen zehn Jahren mit der Opposition nicht zufrieden waren, ohne die Stammwähler der Opposition zu verärgern. Und es muss die Wähler in der Hauptstadt und in anderen Großstädten mobilisieren, darf aber nicht den Fehler machen, die Wähler in den kleineren Städten zu vergessen. Das kann nur gelingen, wenn alle Akteure zusammenarbeiten – und dann stehen die Chancen, die Ära Orbán zu beenden, so gut wie seit 2010 nicht mehr.
„Wir haben genug!“
Demonstranten ziehen bei ihrer Kundgebung gegen die Regierung durch Budapest. Rechts: Oppositionskandidat Péter Márki-Zay.
„Wir haben genug!“
Demonstranten ziehen bei ihrer Kundgebung gegen die Regierung durch Budapest. Rechts: Oppositionskandidat Péter Márki-Zay.
Andrea Virág ist Strategie-Leiterin des Republikon-Instituts in Budapest. Sie hat Politikwissenschaft, Umfragestatistik und Geschichte studiert.