KRIEG IN EUROPA

Immer begeht der Westen denselben Fehler

Sarajevo 1914, Sudetenland 1938, Polen 1945, Krim 2014: An scheinbar abgelegenen Orten passiert etwas, und niemand erkennt die Dimension. Und nun? Man kann noch etwas tun. Aber für die Ukrainer wird es nicht genügen.

TEXT: TIMOTHY GARTON ASH
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA

KRIEG IN EUROPA

Immer begeht der Westen denselben Fehler

Sarajevo 1914, Sudetenland 1938, Polen 1945, Krim 2014: An scheinbar abgelegenen Orten passiert etwas, und niemand erkennt die Dimension. Und nun? Man kann noch etwas tun. Aber für die Ukrainer wird es nicht genügen.

TEXT: TIMOTHY GARTON ASH
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA

Warum machen wir immer denselben Fehler? Oh, das ist nur eine Sache auf dem Balkan, sagen wir – und dann löst ein Mord in Sarajevo den Ersten Weltkrieg aus. Oh, Hitlers Drohung an die Tschechoslowakei ist „ein Streit in einem weit entfernten Land, zwischen Leuten, über die wir nichts wissen“ (Neville Chamberlain) – und dann sind wir im Zweiten Weltkrieg wieder. Oh, Stalins Vergewaltigung des entfernten Polen nach 1945 geht uns nichts an – flugs sind wir im Kalten Krieg. Jetzt haben wir den Fehler schon wieder gemacht, sind erst aufgewacht, als es zu spät ist, acht Jahre nach der Eroberung der Krim durch Wladimir Putin. Und dann ist da auf einmal Donnerstag, der 24. Februar 2022 – ein Tag, der direkt in die Geschichtsbücher marschieren wird. Wieder stehen wir da, gekleidet nur in die Fetzen unserer verlorenen Illusionen.

Vier Dinge sind jetzt wichtig

In solchen Momenten brauchen wir Mut und Entschlossenheit, aber auch Weisheit. Das schließt Vorsicht beim Gebrauch von Wörtern ein. Dies ist nicht der Dritte Weltkrieg. Es ist jedoch bereits jetzt etwas sehr viel Ernsteres als die sowjetischen Invasionen 1956 in Ungarn und 1968 in die Tschechoslowakei. Die Kriege im früheren Jugoslawien in den Neunzigerjahren waren schrecklich, aber die damit verbundenen internationalen Gefahren hatten nicht diese Dimension. 1956 in Budapest gab es tapfere Widerstandskämpfer, aber bei der heutigen Ukraine handelt es sich um einen gesamten, unabhängigen Staat mit einer Armee und einem Volk, die beide erklären: Ihre Bestimmung liegt jetzt im Widerstand. Sollten sie den nicht dauerhaft leisten, wird es eine schlimme Besetzung sein. Sollten sie ihn leisten, könnte dies der größte Krieg in Europa seit 1945 sein.

Gegen sie ist eine überwältigende Militärmacht in Stellung gebracht; es sind gut ausgebildete und gut ausgestattete konventionelle Streitkräfte, plus 6000 Atomwaffen. Russland ist nun der größte Schurkenstaat der Welt. Er wird kommandiert von einem Präsidenten, der – soweit man das von seinen hysterischen Tiraden beurteilen kann – das Gebiet des rationalen Kalkulierens verlassen hat, wozu isolierte Diktatoren früher oder später immer neigen. Um es klar zu sagen: Als er in seiner Kriegserklärung jedem, „der versucht, uns zu behindern“, mit Konsequenzen drohte, „wie Sie sie noch nie in Ihrer Geschichte erlebt haben“ – da drohte er uns mit einem Atomkrieg.

Russland ist nun der größte Schurkenstaat der Welt. Er wird regiert von einem Präsidenten, der das Gebiet des rationalen Kalkulierens verlassen hat.

Wenn wir 2014 der Ukraine ernsthaft geholfen hätten, Kapazitäten zur Selbstverteidigung aufzubauen, wenn wir damals Europas Abhängigkeit von russischer Energie reduziert hätten, wenn wir damals die Seen aus schmutzigem russischen Geld in Londongrad trockengelegt hätten und Putins Regime mehr Sanktionen auferlegt hätten – dann wären wir jetzt vielleicht in einer besseren Lage. Aber wir müssen nun mal dort starten, wo wir sind. Im frühen Nebel eines Kriegs, der gerade beginnt, sehe ich vier Dinge, die wir in Europa und im Westen insgesamt tun müssen:

Erstens müssen wir die Verteidigung jedes Zentimeters von NATO-Territorium sichern, besonders an den Grenzen zu Russland, Belarus und der Ukraine; gegen alle möglichen Formen der Attacke, auch Cyberattacken und hybride. Siebzig Jahre lang fußte die Sicherheit in ganz Westeuropa letztlich auf der Glaubwürdigkeit des Versprechens „Einer für alle und alle für einen“, des Artikels 5 des NATO-Vertrags. Ob man es mag oder nicht, die langfristige Sicherheit von London ist nun untrennbar verbunden mit der von Narva in Estland, die von Berlin mit der von Białystok in Polen, die von Rom mit der von Cluj-Napoca in Rumänien.

Zweitens müssen wir alle nur mögliche Unterstützung der Ukraine anbieten, ohne dass wir die Schwelle überschreiten, die den Westen direkt in einen heißen Krieg mit Russland bringen würde. Das begrenzte Ausmaß unserer Antwort an Russland wird bei allen Ukrainern, die sich zum Bleiben und Kämpfen entschieden haben, unvermeidlich zu tiefer Enttäuschung führen. In Mails von ukrainischen Freunden wird zum Beispiel gefordert, eine Flugverbotszone einzurichten, die russischen Flugzeugen den ukrainischen Luftraum verwehren würde. Die NATO wird das nicht tun. Wie die Tschechen 1938, wie die Polen 1945, wie die Ungarn 1956 werden die Ukrainer sagen: „Liebe Miteuropäer, ihr habt uns im Stich gelassen und verraten.“

Aber es gibt noch weitere Dinge, die wir tun können. Nicht nur können diejenigen westlichen Demokratien, die richtigerweise Waffen, Kommunikationstechnik et cetera liefern, dies weiterhin tun. Mittelfristig können wir jenen helfen, die die bewährten Techniken des zivilen Widerstands einsetzen gegen eine russische Besetzung und jeden Versuch, eine Marionettenregierung zu installieren. Wir müssen auch bereitstehen, den vielen Ukrainern zu helfen, die westwärts fliehen werden.

Mittelfristig können wir jenen helfen, die die bewährten Techniken des zivilen Widerstands einsetzen gegen jeden Versuch, eine Marionettenregierung zu installieren.

Mittelfristig können wir jenen helfen, die die bewährten Techniken des zivilen Widerstands einsetzen gegen jeden Versuch, eine Marionetten-regierung zu installieren.

Europa sollte Putins Freunde ausweisen

Drittens sollten die Sanktionen gegen Russland hinausgehen über das, was bereits vorbereitet worden ist. Neben flächendeckenden ökonomischen Maßnahmen sollte es Ausweisungen von Russen geben, die in irgendeiner Weise mit dem Regime verbunden sind. Putin, mit einer Kriegskasse von mehr als 600 Milliarden Dollar und der Hand am Gashahn nach Europa, hat sich auf die Sanktionen vorbereitet. Also werden sie Zeit brauchen, um den vollen Effekt zu haben.

Am Ende werden es die Russen selbst sein müssen, die sagen: „Genug. Nicht in unserem Namen.“ Viele von ihnen, darunter Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow, drücken ihren Abscheu über diesen Krieg bereits aus. Oder lesen Sie den bewegenden Bericht der ukrainischen Journalistin Natalia Gumanjuk über einen russischen Journalisten, der mit ihr am Telefon weinte und um Verzeihung bat, während die russischen Panzer einrollten. Dieser Abscheu wird noch zunehmen, wenn die Körper junger russischer Männer in Leichensäcken heimkommen – und wenn die Auswirkungen hinsichtlich Wirtschaft und Reputation daheim in Russland offenkundig werden. Russen werden die ersten und die letzten Opfer von Wladimir Putin sein.

„Der Sieg ist eine Niederlage“

Das führt mich zu einem letzten, vitalen Punkt. Wir müssen uns auf einen langen Kampf einstellen. Es wird Jahre, vermutlich Jahrzehnte brauchen, um die Konsequenzen des 24. Februar 2022 zu bewältigen. Kurzfristig sind die Aussichten für die Ukraine zum Verzweifeln. Aber ich denke in diesem Moment an den wunderbaren Titel eines Buches über die ungarische Revolution von 1956: „Der Sieg einer Niederlage“. Fast alle im Westen haben nun begriffen, dass die Ukraine ein europäischer Staat ist, der von einem Diktator angegriffen und zerstückelt wird. Kiew war zuletzt eine Stadt voll mit Journalisten aus aller Welt. Diese Erfahrung wird ihre Sicht der Ukraine für immer prägen. In den Jahren nach dem Kalten Krieg, in den Jahren unserer Illusionen, hatten wir vergessen, wie sich Nationen in der mentalen Karte von Europa eintragen, nämlich mit Blut, Schweiß und Tränen.

Timothy Garton Ash ist britischer Historiker, Publizist und Schriftsteller. Seine Kolumnen erscheinen im „Guardian“ sowie in zahlreichen anderen internationalen Zeitungen. Er lebt in Oxford und Stanford. Dieser Text ist bereits in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen.


Timothy Garton Ash ist britischer Historiker, Publizist und Schriftsteller. Seine Kolumnen erscheinen im „Guardian“ sowie in zahlreichen anderen internationalen Zeitungen. Er lebt in Oxford und Stanford. Dieser Text ist bereits in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen.

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