ERFOLGSGESCHICHTE
Der deutsch-französische Fernsehsender wird bald 30 Jahre alt. Er hat seine verstaubte Aura abgelegt und gewinnt auch in schwierigen Zeiten Zuschauer. Jetzt muss sich der Sender noch stärker für ganz Europa öffnen.
TEXT: ELISABETH CADOT
ERFOLGSGESCHICHTE
Der deutsch-französische Fernsehsender wird bald 30 Jahre alt. Er hat seine verstaubte Aura abgelegt und gewinnt auch in schwierigen Zeiten Zuschauer. Jetzt muss sich der Sender noch stärker für ganz Europa öffnen.
TEXT: ELISABETH CADOT
Der deutsch-französische Sender ARTE bekommt Aufwind. In einer Zeit, in der die meisten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Zuschauer einbüßen, legt ARTE France ein starkes Wachstum auf fast 3 Prozent Zuschaueranteil hin. Das ist so viel wie noch nie. Dazu kommen durchschnittlich 170 Millionen Videoaufrufe im Monat auf der Plattform arte.tv und mehr als 18 Millionen Abonnenten in den sozialen Netzwerken. ARTE Deutschland liegt derzeit bei 1 Prozent Zuschaueranteil, immerhin mit langsamem, treppenförmigem Anstieg.
„Es ist die Vielfalt, die die Nordsee so spektakulär macht“, heißt es in der von ARTE auf Deutsch wie auf Französisch ausgestrahlten Dokumentation „Mythos Nordsee“. Dieses Lob der Vielfalt passt auch auf den Sender selbst, der bald 30 Jahre alt wird. Wie die Städtepartnerschaften und das Erasmus-Programm gehört der von beiden Ländern getragene öffentlich-rechtliche Sender zu den Instrumenten, die Politiker erdacht haben, um die Integration Europas zu stärken.
Dabei hat der zweisprachige Sender seit 2010 seine etwas verstaubte Aura abgelegt. Die ARTE-Mediathek, gratis und ohne Abonnement verfügbar, ist das Herzstück des modernisierten Angebots. Hier findet man das Nachrichtenmagazin „Journal“ und das Polit-Magazin „28 Minuten“, Zugpferd des Senders in Frankreich, aber auch das Format „Karambolage“, das deutsch-französische Eigenheiten erklärt, kulturelle Dokumentarserien und Konzertvideos.
ARTE France muss zwar seit mehreren Jahren sparen. Doch für das Jahr 2021 stand immer noch ein gebührenfinanziertes Budget von 273 Millionen Euro zur Verfügung (2 Millionen Euro weniger als im Vorjahr).
ARTE hat sich zum Ziel gesetzt, erste europäische Kulturplattform zu werden. Sein Trumpf: Die Vielfalt.
Sein tatsächliches Verdienst aber ist, dass er dem Jüdischsein eine völlig neue und unkonventionelle Bühne bietet. In „Freitagnacht Jews“ gibt es Trinkspiele, man stößt mit Wodka an, lacht viel, fällt einander ins Wort, stellt freche Fragen, redet sich alles von der Seele. Die jüdische Community feiert das Format – und alle anderen sollten mitschauen (WDR- und ARD-Mediathek). Es gibt so viel zu lernen und zu verstehen! Beim Zusehen geht einem einfach das Herz auf vor lauter sprudelndem Witz und Lebensfreude. Was für ein begnadeter Entertainer, dieser Daniel Donskoy.
Der Sender zeigt damit auch erfolgreiche Filme und Serien, und er wirft regelmäßig ein Licht auf Ereignisse, die im jeweiligen Nachbarland aktuell sind. So konnten sich die Franzosen hier zum Beispiel über den Wirecard-Skandal in Deutschland informieren. Der am 2. November ausgestrahlte Dokumentarfilm „Wirecard – die Milliarden-Lüge“, fast ein Thriller, erreichte auf beiden Seiten des Rheins nahezu gleich viele Zuschauer (572 000 Zuschauer in Deutschland, 499 000 in Frankreich). Die Deutschen – und andere Europäer – wiederum gewinnen dank einer Reihe von Porträts unter dem Titel „Mein Elysée: Die Präsidentenwahlen aus Sicht einer Pariser Vorstadt“ einen Einblick in das Leben in einer französischen Banlieue.
In Zukunft wird sich der 1992 gegründete Sender noch stärker für ganz Europa öffnen müssen. Das ist seine ursprüngliche Berufung: Im Gründungsvertrag ist der Auftrag verankert, „die europäischen Völker einander verständlich zu machen und einander näher zu bringen“. Zu diesem Zweck hat man unter anderem die Dokumentarserie „The European Collection“ aufgelegt. ARTE hat sich zum Ziel gesetzt, „erste europäische Kulturplattform“ zu werden. Gegenüber den amerikanischen Schwergewichten wie Netflix, Disney Channel oder anderen hat der Sender eine Trumpfkarte im Ärmel: die Vielfalt, die wahre kulturelle Identität Europas.
Elisabeth Cadot ist freie Journalistin. 1985 bis 2014 war sie Redakteurin bei der Deutschen Welle. Sie kommentiert in dem Blog „notices d’allemagne“ das kulturelle und politische Leben in Deutschland und ist dem TV-Publikum als Frankreich-Expertin bekannt.