WIRTSCHAFT SPEZIAL
Nach dem Buchdruck kam nun endlich BionTech: Der Stadtkämmerer der Fastnachtshochburg am Rhein kann sein Glück kaum fassen. Er wird jetzt erst einmal alle Kassenkredite der Gemeinde zurückzahlen.
TEXT: ALEXANDER GÖRLACH
WIRTSCHAFT SPEZIAL
Nach dem Buchdruck kam nun endlich BionTech: Der Stadtkämmerer der Fastnachtshochburg am Rhein kann sein Glück kaum fassen. Er wird jetzt erst einmal alle Kassenkredite der Gemeinde zurückzahlen.
TEXT: ALEXANDER GÖRLACH
Mainz war in seiner Geschichte schon vieles: Römisches Lager, erste Republik auf deutschem Boden, ausgebombte Perle am Rhein. Heute ist Mainz Landeshauptstadt, Fastnachtshochburg und Medienstadt. Mit den Medien hat sie es übrigens bereits seit 1455. Damals wurde das verschlafene Nest durch den Buchdruck über Nacht sozusagen zum Silicon Valley der Renaissance. Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, ist bis auf den heutigen Tag ihr geliebter und gefeierter Sohn, auch wenn er der Stadt nichts als seine Schulden hinterließ und sich Hals über Kopf nach Straßburg absetzte. Seine Druckerpresse kam in Mainz unter den Hammer.
Mit dem Pleitier Gutenberg haben die Mainzer aber keine Probleme, denn bis vor kurzem war auch die Stadt selbst im Gedächtnis der Lebenden vor allem stets genau das: pleite. Gutenberg ist deshalb der uneingeschränkte Stolz aller Mainzer, denn dank ihm können sie allen, die ihre wunderbare Stadt nicht kennen, selbstbewusst zurufen: „Bei uns wurde der Buchdruck erfunden, das war unser Beitrag zu Humanismus und Aufklärung. Wir haben unsere Schuldigkeit an der Menschheit für fünfhundert Jahre getan. Und ihr so?”
Der Reformation aber, die der Wittenberger Doktor in der nahe gelegenen Stadt Worms vor Kaiser und Reichstag losgetreten hatte, konnten die gottesfürchtigen Mainzer nichts abgewinnen. Und nun hat der Himmel ihr leises Flehen um ein Wunder erhört, auf dass im sechsten Jahrhundert nach Gutenberg etwas Neues, Bahnbrechendes innerhalb ihrer Stadtmauern geschehe und den Ruhm der Stadt abermals mehren möge: „BionTech“ ist das neue Hosianna, das die Mainzer von Emporen, Balkonen und Tresen singen. Der in aller Welt als Erster zugelassene Impfstoff gegen Corona wurde in Mainz entwickelt. In der großen weiten Welt mögen Unwissende den Impfstoff vom Rhein nach dem großen Pharmaunternehmen in den Vereinigten Staaten „Pfizer“ nennen, doch Pfizer war „nur“ Partner bei der Entwicklung der Vakzine; das Endprodukt ist „Made in Mainz“. Dass Menschen mit Wurzeln in der Türkei, Ugur Sahin und Özlem Türeci, den schützenden Stoff entwickelt haben, unterstreicht für die Mainzer nur jene Weltoffenheit, der sie sich als Bewohner der Handelszentrums am Rhein schon seit der Römerzeit rühmen.
Dank der Einnahmen aus der Gewerbesteuer der Firma BionTech kann man sich in Mainz zum ersten Mal seit Kriegsende auch wie in einer echten Landeshauptstadt fühlen. Von den 16 Milliarden Euro Umsatz überwies das Unternehmen eine Milliarde an den Stadtkämmerer. Der fasst sein Glück kaum: Statt 36 Millionen Euro neue Schulden aufzunehmen, kann er nun erst einmal sämtliche Kassenkredite der Stadt, rund 630 Millionen Euro, abbezahlen. Allein die dadurch entfallenden jährlichen Zinszahlungen geben der Stadt eine Bewegungsfreiheit, die sie seit der napoleonischen Besatzung nicht mehr gehabt haben dürfte. Solange die Pandemie andauert, wird der Geldregen nicht versiegen. Für 2022 wird mit einer weiteren halben Milliarde für die Gemeindeschatulle gerechnet. Kein Wunder, dass der Herr der nunmehr vollen Kassen jubiliert, künftig müsse man niemanden mehr fragen, wenn man etwas bauen oder erhalten wolle. Schon entsteht eine neue Kulturhalle vor seinem geistigen Auge; damit hätte das gesamte Volk etwas von den BionTech-Einnahmen. Aber noch widersteht man im maroden, asbestverseuchten Rathaus diesem Impuls, das Geld sogleich zu verjubeln. Das ist beachtlich. Langfristiges, nachhaltiges Denken und Handeln ist dem auf den Moment und dessen genießerisches Auskosten spezialisierten Mainzer eigentlich fremd.
Noch 2018 votierte eine Mehrheit in einem Volksentscheid gegen die Erweiterung des Gutenberg-Museums, obschon dafür Fördermittel in den klammen Haushalt geflossen wären. Vordergründig ging es dabei um den Entwurf des „Bibel-Turms“, in dem die ersten Printerzeugnisse Gutenbergs hätten gezeigt werden sollen und der, als neumodisch verschrien, vielen nicht gepasst hat. Das Projekt fiel in Wahrheit aber deshalb durch, weil der Turm teilweise auf dem Marktplatz errichtet worden wäre. „Halt!“, riefen die Mainzer. Denn das hätte den verfügbaren Platz begrenzt für das samstäglich stattfindende „Marktfrühstück“, was eine gefällige Umschreibung für einen enthemmten Rieslingschorlen-Trinkwettbewerb ist. Und das geht nicht. Damit sich die Stadt trotz ihres schäbigen Umgangs mit dem Bibel-Turm nicht um kommende große Töchter und Söhne bringt, hat Oberbürgermeister Michael Ebling angekündigt, einen erklecklichen Teil der Biontech-Einnahmen in die Ansiedlung neuer Unternehmen zu investieren. Mainz soll zum „Hub“ für Biotechnologie-Unternehmen in Deutschland werden. Hoffentlich ist das den Mainzern nicht auch wieder zu viel Neues, denn das mögen sie, siehe oben, nicht. Es gilt, was der Barde und selbsternannte „Klaviator“ Lars Reichows in seiner Hymne an die Stadt gedichtet hat: „Du denkst gern an die Zukunft, doch fehlt dir die Vision: Ein Schritt nach vorn und zwei zurück zur Tradition“.
Auch Gutenberg durfte damals in Mainz nur ans Werk gehen, weil er der Obrigkeit – dem kurfürstlichen Erzbischof – zusagte, dass seine Erfindung keinerlei Veränderung nach sich ziehen werde und dass in Mainz alles beim Alten bleibe. Dem war natürlich nicht so. Mit dem Fortschritt kam der Wandel: nach der Bibel die Flugblätter, mit ihnen die Reformation, etwas später dann die Französische Revolution, bis schließlich Napoleon den Erzbischof an die frische Luft setzte. Und die Kirche geht auch im katholischen Mainz heute fast niemand mehr. Wie wird es weitergehen in der beschaulichen Perle am Rhein? Welche Errungenschaft werden die Nachfahren der heutigen Mainzer den kommenden Generationen kredenzen? Sie werden es erleben. Die Messlatte liegt mit Buchdruck und BionTech sehr hoch. Geistig und pekuniär beflügelt, kann sich die Stadt nun erst einmal eines alten Ehrentitels wiederbemächtigen, den sie im Bombenhagel des Weltkrieges und im tristen Wiederaufbau verloren hatte: Goldenes Mainz.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs.
Die Luftfahrt hat nur noch bis 2050 Zeit, um die Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens zu erfüllen. Das ist enorm ehrgeizig. Aber Geld ist genug da, und es gibt vielversprechende Ansätze – von Elektroflugzeugen bis zu nachhaltigem Flugbenzin.
Reif für die Disruption: Die ersten Gastronomen begegnen dem Fachkräftemangel mit Service-Robotern und automatisierten Küchen-Bots.
Dieser Tage sind wir dankbar für jede positive Nachricht. Und eine solche kam am 14. März vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. An diesem Tag billigten die höchsten deutschen Richter das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der Europäischen Union, genannt CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement).