KRIEG IN EUROPA
Was der russische Machthaber tut, ist täglich mit Grauen den Nachrichten zu entnehmen. Und was er sagt, macht fassungslos. Was nur geht bei alledem im Kopf des ehemaligen KGB-Spions im Kreml vor? Der Philosoph Michel Eltchaninoff hat die Hintergründe des Putin’schen Denkens und der von ihm geformten Ideologie erforscht.
TEXT: KAREN HORN
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
KRIEG IN EUROPA
Was der russische Machthaber tut, ist täglich mit Grauen den Nachrichten zu entnehmen. Und was er sagt, macht fassungslos. Was nur geht bei alledem im Kopf des ehemaligen KGB-Spions im Kreml vor? Der Philosoph Michel Eltchaninoff hat die Hintergründe des Putin’schen Denkens und der von ihm geformten Ideologie erforscht.
TEXT: KAREN HORN
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Warum hat der russische Machthaber Wladimir Putin ausgerechnet jetzt die Ukraine überfallen und fordert Unmögliches vom Westen, insbesondere von der NATO?
Innenpolitisch ist es so, dass Putin im Wahlkampf 2018 ein „Russland für die Menschen“ versprochen hat: Das war sein Slogan. In den bald vier Jahren seither hat er allerdings nicht viel auf die Beine gestellt. Er hat die Verfassung geändert, um bis zum Jahr 2036 im Amt bleiben zu können; er hat das Rentensystem auf eine höchst unbeliebte Weise reformiert; er hat seinen Kritiker und Konkurrenten Alexej Nawalny vergiftet und verhaftet. Aber er hat es nicht geschafft, eine politische Bewegung zu seinen Gunsten in Gang zu setzen. Seine Popularität erodiert zusehends.
Ist das für ihn überhaupt von Belang? Schert er sich um die Meinung der Bevölkerung?
Der Kreml braucht die Bevölkerung nicht. Putin muss niemanden um Erlaubnis bitten. Aber seine Stärke fußt schon auf seiner Anziehungskraft für die Menschen, auf seiner Fähigkeit, sie für sich zu gewinnen und zu mobilisieren. Das legitimiert sein Handeln. Diese Anziehungskraft ist jetzt schwächer als 2014, als Russland die Krim annektierte. Die Bevölkerung ist der Propaganda und der Kriegsdrohungen ebenso müde wie der Korruption und der schwierigen wirtschaftlichen Lebensumstände. Mit Blick auf die Wahlen 2024 musste er etwas tun. Darum versucht er, mit Unterstützung der Staatsmedien, die nationalistische Fieber in die Höhe zu treiben und das russische Empfinden zu schüren, dass man in einer „belagerten Festung“ sitze.
Hat Putin nicht vor allem geopolitische Ambitionen, die für sich selber stehen?
Doch, natürlich. Putin ist während der Amtszeit von Donald Trump in Amerika klar geworden, dass er Russland beim Kräftemessen zwischen den Vereinigten Staaten und China wieder mit ins Spiel bringen muss. Und seit dem Amtsantritt von Joe Biden, den man im Kreml so sehr verachtet wie alle anderen Präsidenten Amerikas aus den Reihen der demokratischen Partei, hat er wohl den Eindruck, der Moment sei dafür günstig. Allerdings muss man wissen, dass Putin langfristig denkt. Er ist seit dem Jahr 2000 Präsident und kann bis 2036 bleiben.
Was will Putin überhaupt?
Nach dem weithin als Demütigung empfundenen Trauma des Zusammenbruchs des Sowjetreichs unternimmt Putin alles, um eine fortgesetzte Aufsplitterung Russlands zu verhindern und ganz im Gegenteil eine neuerliche territoriale Ausbreitung zu ermöglichen. Er folgt dabei dem Denker Lew Gumiljow in der pseudowissenschaftlichen Vorstellung, jedes Volk habe eine ihm eigene Lebensenergie, und das überlegene Wesen Russlands als junges, neues, von kosmischer Kraft erfülltes Land verlange nach fortgesetzter Ausdehnung.
Putin folgt der pseudowissenschaftlichen Vorstellung, das überlegene Wesen Russlands als junges, neues, von kosmischer Kraft erfülltes Land verlange nach fortgesetzter Ausdehnung.
Putin folgt der pseudowissen-schaftlichen Vorstellung, das überlegene Wesen Russlands als junges, neues, von kosmischer Kraft erfülltes Land verlange nach fortgesetzter Ausdehnung.
Wie bitte?
Schon die Zaren haben das Territorium Russlands Stück für Stück vergrößert. Auch die Sowjetunion hat nach diesem Gesetz funktioniert; in ihre Zeit fiel nicht zuletzt die Eroberung des Weltraums. Das ist real und zutiefst sinnbildlich zugleich: Der Russe greift nach den Sternen. Es gibt in der russischen Kultur einen Messianismus, mindestens seit dem 16. Jahrhundert. Russland betrachtet sich demnach zu bestimmten Augenblicken seiner Geschichte mit einer universellen zivilisatorischen Mission betraut.
Verfängt das bei den Russen?
Diese Erzählung entspricht vielleicht nicht der öffentlichen Meinung, aber sie berührt durchaus etwas Tiefsitzendes in der russischen Kultur. Es gibt da diese gefährliche Vorstellung, man sei etwas ganz Besonderes und damit beauftragt, der Welt etwas zu zeigen, ihr etwas zu beweisen. Es ist kein Zufall, dass aus Russland seinerzeit die Sowjetunion wurde. Die Sowjetunion, das war eine Idee, ein Konzept.
Und bei diesem Imperialismus steht ihm der Westen im Weg.
Ja, ausgerechnet der Westen, der nach der Theorie Gumiljows alt, müde und ausgelaugt ist, dessen Lebensenergie sich also auf dem absteigenden Ast befindet. Putin verbreitet laufend die Erzählung von der Ungeheuerlichkeit, dass Russland in die Ecke gedrängt und kleingehalten werde. Der Westen wolle verhindern, dass Russland wieder zu der Größe finden könne, die diesem Volk wesensgemäß zukomme.
Eine Inszenierung Russlands als Opfer?
Genau, so ist es.
Geht es um eine Rückkehr zum Zarenreich oder in die Sowjetunion?
Weder noch. Und dennoch ist Putin in der Außenpolitik sowohl den Zaren als auch Stalin treu. All das ist getrieben von dieser Paranoia, die mit seiner KGB-Ausbildung zu tun hat.
Kann man Putins Denken als kohärente Ideologie bezeichnen?
Nein. Putin hat begriffen, wie intellektuell desorientiert das russische Volk seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist. Die Leute hatten 70 Jahre mit dem Marxismus-Leninismus gelebt. Und selbst wenn sie nicht daran glaubten, hat sie diese Ideologie doch geprägt; das gilt auch für Putin selbst. Putin bietet ihnen nun mit einer neuen ideologischen Erzählung Halt. Der Putinismus bedient verschiedene Befindlichkeiten, die in Russland eine Rolle spielen, zum Beispiel wenn er sich auf das orthodoxe Christentum stützt, das in der Sowjetzeit weitgehend unterdrückt war, auf die russische Volkszugehörigkeit, die erhabene slawische Seele, oder auf den Eurasismus, wonach sich Russland gen Asien wenden sollte.
Im Jahr 2015 erschien Michel Eltchaninoffs Essay „Dans la tête de Vladimir Poutine“. Auf Deutsch erschien er 2016 bei Klett-Cotta („In Putins Kopf: Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten“). Als gedruckte Ausgabe vergriffen, aber als E-Book erhältlich.
Im Jahr 2015 erschien Michel Eltchaninoffs Essay „Dans la tête de Vladimir Poutine“. Auf Deutsch erschien er 2016 bei Klett-Cotta („In Putins Kopf: Die Philosophie eines lupenreinen Demokraten“). Als gedruckte Ausgabe vergriffen, aber als E-Book erhältlich.
Aber wie geht das alles zusammen?
Wesentliche Bestandteile dieses Putinismus sind Konservatismus, Antiamerikanismus und die Zurückweisung alles „politisch Korrekten“. Das Bindeglied in diesem Stückwerk sind der Hass auf den dekadenten Westen, der Imperialismus und die Kriegsbereitschaft. Mit dieser Botschaft will Putin aber nicht etwa nur das eigene Volk mitreißen, sondern die ganze Welt verführen. Dieser Exportehrgeiz, wenn man so will, unterscheidet diese Ideologie von anderen Doktrinen autoritärer Staaten wie China oder Iran.
Aber was soll denn an dieser Botschaft attraktiv sein?
Das Spirituelle. Die Russen sind häufig Idealisten. In der Vorstellungswelt Putins haben sie eine religiöse, barmherzige Seele und sind bereit zu sterben. „In Russland ist selbst der Tod noch schön“, besagt ein Sprichwort, das Putin gern zitiert. Wir im reichen Westen sind nach seiner Auffassung Materialisten, wir suchen nur unseren Komfort. Wir kennen keinen Patriotismus, keine Opferbereitschaft, wir kämpfen für nichts.
In Ihrem Buch „In Putins Kopf“ erwähnen Sie auch die in Russland bizarre Formen annehmende Verherrlichung der Armee. Soll das auch auf diese Ideologie einzahlen?
Putins Ideologie ist eine Sakralisierung des Krieges. Wir beobachten seit mehreren Jahren eine Militarisierung der russischen Gesellschaft. Die Kinder bekommen schon in der Schule eine patriotische Grundausbildung und lernen, mit Waffen umzugehen. Außerdem wird die Armee gefeiert. Man muss sich nur das Zentralmuseum der russischen Streitkräfte in Moskau ansehen, eine mit Fresken und Mosaiken geschmückte Kathedrale der Armee, in der Panzer und Flugzeuge zur Schau gestellt sind, oder die Aufmärsche des „unsterblichen Regiments“ an jedem 9. Mai. Jede Familie ist gehalten, dort mitzulaufen und Fotos im Krieg gefallener Vorfahren vor sich her zu tragen. Hinzu kommt das kollektive Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs. Man ist stolz, daraus als Sieger hervorgegangen zu sein.
Aber gerade das müsste doch eigentlich eine Brücke nach Westen bauen, schließlich haben die Russen den Sieg über Hitler-Deutschland ja nicht im Alleingang geschafft?
Putin blendet die Beteiligung der westlichen Alliierten völlig aus. Und dafür, dass die Sowjet-Soldaten den Nationalsozialismus besiegt haben, erwartet er vom Westen Dankbarkeit. Weil er die nicht so bekommt, wie er sich das vorstellt, sinnt er auf Revanche.
Wie wichtig ist Putin als Person bei alledem? Wäre der Kreml auch ohne ihn fähig, den Putinismus weiterzuführen?
Es ist schwer, sich Russland heute ohne Putin vorzustellen. Aber natürlich gibt es in seiner Entourage mögliche Nachfolger, und die Gefahr ist, dass diese Leute so denken wie er. Zum Beispiel Sergei Schoigu.
… den sogenannten Verteidigungsminister, also den Führer der russischen Streitkräfte.
Ja. Auf die Frage indes, ob es einen Putinismus ohne Putin geben kann, haben nur die Russen selbst eine Antwort. Vielleicht hat Putin institutionell, ökonomisch und mental die Weichen schon gestellt. Und vielleicht ist es ihm auch schon gelungen, die Menschen zu überzeugen, dass die Idee wichtiger sei als die Realität. Vielleicht gäbe es aber auch, spätestens wenn er weg wäre, eine Befreiung in dem Sinn, dass die Leute begreifen, dass seine Ideologie eine Seifenblase war und ihr Land unter ihm und seiner Ideologie mehr verloren als gewonnen hat.
Michel Eltchaninoff ist Chefredakteur des „Philosophie Magazine“, des französischen Pendants zum deutschen „Philosophie Magazin“. Wissenschaftlich hat er sich auf die russische Philosophie spezialisiert.
Michel Eltchaninoff ist Chefredakteur des „Philosophie Magazine“, des französischen Pendants zum deutschen „Philosophie Magazin“. Wissenschaftlich hat er sich auf die russische Philosophie spezialisiert.
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